Anita Augspurg, 1895
Spät zwar, aber doch endlich dämmert auch in Deutschland das Verständnis für die Frauenfrage auf, kommt es insbesondere dem Gros der Frauenwelt zum Bewußtsein, daß ihr Selbsterhaltungstrieb allerlei Thesen festnageln muß, aus denen ein Protest gegen bestehende und nicht länger erträgliche Zustände als unausbleibliche Konsequenz hervorgehen wird, nachdem einzelne Predigerinnen durch Jahrzehnte die Rolle der Stimmen in der Wüste gespielt hatten.
Umschau haltend bei anderen Nationen gewahren wir, daß fast alle uns weit überhohlt haben, daß die Fortschritte fremdländischer Frauen in ihrer Stellung in ihren Rechten unseren Zuständen weit voraus sind, und wir fragen uns nach dem Grunde. Liegt es an der geringeren Intelligenz, der geringeren Großherzigkeit, dem geringeren Genossenschaftsgefühle der deutschen Frau? Kaum, denn wir haben Beispiele der ersteren, Erfolge des letzteren in zahlreichen Einzelfällen und Leistungen, in großartigen Vereinsorganisationen, die solchen Vermutungen als Gegenbeweise entgegengehalten werden können. Aber ein Umstand zeigt sich dem Forscher, welcher der Wurzel nachgräbt, und zwar ein wichtiger, tiefgreifender Umstand. Das Fundament, auf welchem die deutsche Frau ihren ganzen Freiheitsbau ausführen muß, trägt nicht, die Wurzel, aus welcher ihr Freiheitsbaum entsprießen soll, hat keinen Nährboden, sie kann nur mit Worten fechten und selbst das nur innerhalb einen engen Rahmens, – reale Ziele, ernste Maßnahmen sind von ihr von vornherein versagt, weil sie sich rechtlich als Ausnahmesubjekt sieht, weil ihre Rechtsfähigkeit, ihre Handlungsfähigkeit durch das Gesetz beschränkt ist und die güterrechtlichen Bestimmungen sie vollkommen abhängig und unfrei machen.
Dieses gilt in noch größerem Maße von der verheirateten Frau, als von der unverheirateten. Aber derjenige irrt, welcher glaubt, die Frauenbewegung werde insbesondere von der unverheirateten Frau gemacht und berühre die verheiratete, weil versorgte Frau nicht. Die Frauenfrage ist zwar zum großen Teile Nahrungsfrage, aber vielleicht in noch höherem Maße Kulturfrage, ihre Auffassung als solche errringt sich von Tag zu Tage mehr Boden, in allererster Linie aber ist sie Rechtsfrage, weil nur von der Grundlage verbürgter Rechte, nicht idealer (welche beiden Eigenschaften des Rechtes sich leider nicht immer decken), an ihre sichere Lösung überhaupt gedacht werden kann. Jede andere Bestätigung in der Frauenfrage ist vorschnell und verfrüht, als diejenige, welche die Vollanerkennung der Frau als gleichwertiges und gleichberechtigtes Rechtssubjekt neben dem Manne bezweckt und die Beseitigung aller für sie bestehenden Ausnahmegesetze und Paragraphen ins Auge faßt. Denn der Beginn mit Einzelheiten, bevor das Ganze gesichert ist, bedeutet nichts anderes als die Anbringung von Thürstöcken und Fensterrahmen bei einem Hausbau, bevor die Grundmauern ausgeführt sind. Was immer eine einzelne Frau erreicht und erringt in Kunst, in Wissenschaft, in Industrie, an allgemeinem Ansehen und Einfluß: es ist etwas Privates, Persönliches, Momentanes, Isoliertes, was gleich einer vereinzelten Welle sich aus dem Schoße des Meeres erhebt, um spurlos wieder darin zu verschwinden, – es haftet ihm immer der Charakter des Ausnahmsweisen und als solchem Geduldeten an, aber es ist nicht berechtigt und kann daher nicht zur Regel werden, kann nicht Einfluß gewinnen auf die Allgemeinheit.
Nach zwei Richtungen hin ist der Frau von unseren bestehenden und nicht minder von unseren projektierten Gesetzen Recht versagt, und jede Frau wird von einer dieser beiden Richtungen, häufig wird eine Frau von beiden getroffen. Die eine Rechtsbenachteiligung gilt der einzelnen Frau als Person, und sie findet ihren Ausdruck in den Familien- und Ehegesetzen, die andere – und diese ist keine Benachteiligung, sondern eine direkte Rechtsversagung – trifft alle Frauen als Gesellschaftsklasse, als Partei, welcher zwar alle politischen Pflichten auferlegt, aber jedes politische Recht versagt ist. Unter dem dehnbaren Begriffe der politischen Rechten sind aber nicht etwa ihre Wahlrechte, ihr offiziell anerkannter Einfluß an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten gemeint, sondern ihre Notwehr gegen das Verhungern, ihre einfachsten Selbsterhaltungsmöglichkeiten.
Leider kennen die allerwenigsten Frauen die Gesetze, denen sie sich unterwerfen, wenn sie eine Ehe eingehen: wenn sie sie kennten, so würden sie vielleicht, – wir hoffen es zu ihrer Ehre – wie einstmals die Plebejer im alten Rom, einmütig auf den heiligen Berg ausziehen und nicht eher zurückkehren, als bis ihnen eine andere Stellung und ein anderes Recht zugesichert würden. Der Erfolg würde ihnen sicher sein, wenn nur auch bei ihnen die Gesinnung schon sicher wäre, die Gesinnung, die ihnen erst aus Einsicht, Wissen und Erkenntnis kommen kann. Um unsere bisherigen Ehegesetzgebungen kurz zu charakterisieren, denn deren existieren vorderhand im Deutschen Reiche noch diverse, die aber mit einer Einmütigkeit und Treffsicherheit alle auf das gleiche Ziel losgehen, die einer besseren Sache würdig wäre, die aber in Deutschland an bessere Sachen selten verschwendet wird, – um also diese Ehegesetzgebungen kurz zu charakterisieren, – stehen dieselben durchweg auf dem Standpunkte, dasjenige Maß von Unrecht zu normieren, welches man, ohne mit ihnen in Konflikt zu geraten, seiner Ehefrau zufügen darf. Sache des Ehemannes ist es, von den ihm gesetzlich zustehenden Mitteln zur persönlichen und vermögensrechtlichen Beeinträchtigung seiner Gattin Gebrauch zu machen oder nicht. Nur wer sich über das Niveau des Gesetzes weit erhebt, räumt ihr eine menschenwürdige Stellung ein, wer sich aber auf den Boden der Gesetze stellt, kann unter deren Sanktion Person, Arbeitskraft, Vermögen seiner Gattin bis auf den Grad des Sklaventums ausbeuten. Demnach darf die Behauptung gerechtfertigt erscheinen, daß die bisherigen Gesetze ihre Aufgabe mit nichten erfüllt haben, insofern man von ihnen, wenn nicht einfache Gerechtigkeit, so doch mindestens Inschutznahme des Schwächeren und nicht Parteinahme für den Stärkeren erwarten darf.
Vielfach wird der Einwurf laut, wenn man auf diese wunden Punkte unserer Gesetzgebung hindeutet, daß doch aber kein ordentlicher Mann von solcher ihm zustehenden Machtbefugnis Gebrauch mache und daß die Mehrzahl der Ehen denn doch auf ganz humaner Basis beruhen. Dieser Einwurf ist zwar die Behauptung einer Thatsache, aber als Widerlegung obigen Angriffs leidet sie an einem Mangel von Logik, der verblüffend naiv ist. Also weil sich verhältnismäßig wenige der Sanktion des Unrechts bedienen, welche die Gesetze ihnen erteilen, deshalb sollen diese unerträglich ungerechten Gesetze bestehen dürfen? Derselbe Faden, etwas weiter ausgesponnen, käme auf folgendes: Warum sollen wir denn Paragraphen gegen Mord und Totschlag aufstellen, da doch verhältnismäßig wenige ihn ausüben? Und sind deren, welche auf die aus den Ehegesetzen ihnen erwachsenen Rechte (besser Unrechte) gestützt, ihre Machtvollkommenheit mißbrauchen, resp. gebrauchen, wirklich so wenige? Manches heimlich vergrämte Frauenschicksal könnte wohl andere Ziffern aufstellen helfen, als man sich träumen läßt, und unzählige offenbare Brutalitäten von ungebildeten Ehemännern fußen ganz unverholen mit nackten, klaren Worten auf den Gesetzen: „Ich darf meine Frau schlagen, ich darf meine Frau langsam zu Tode hetzen, das ist mein Recht!“
Wir würden aber auf die in unseren Gesetzen versteinerten Reminiscenzen an eine vergangene Kulturperiode ohne so starke Erregung und Erbitterung blicken, wir würden sie als historische Merkwürdigkeiten betrachten, wie so manche andere unschöne mittelalterliche Institution, wenn wir Aussicht darauf hätten, sie wirklich bald in ein Museum oder Raritätenkabinett, das ja immerhin seinen instruktiven Wert hat, einzurangieren, und dazu könnte ja der Entwurf zum bürgerl. Reichsgesetzbuch volle Hoffnung geben. Das thut er aber nicht, er ist wohl kaum um Strohhalmsbreite vom alten Standpunkte vorgerückt, er weißt noch immer und wiederum der Frau eine Stellung an, wie sie vielleicht dem Geiste des 17. und 18. Jahrhunderts angemessen sein konnte, die aber schon hinter dem 19. zurückgeblieben ist und zum 20., während dessen er doch erst Gesetzeskraft erhalten und auf lange hinaus bewahren soll, in diametralem Gegensatz steht. Mir ist vielleicht in diesen Blättern Gelegenheit gegeben, auf Einzelheiten näher einzgehen, heute sei der deutschen Frauenwelt und sei insbesondere ihren Führerinnen ein Warnunngsruf ausgestoßen: Laßt alles andere ruhen, tretet einmüthig zusammen, vereint alle kraft zu dem, was vor allem notthut, zur Stellungnahme, zum Protest, zum äußersten Kampf gegen den Entwurf des Bürgerl. Gesetzbuches für das Deutsche Reich, wie er jetzt vorliegt, denn in dieser Fassung unterbindet er aufs neue alle Adern eurer Kraft, alle Möglichkeit eures Schaffens und Eurer ganzen bürgerlichen Existenz.
(Quelle: Augspurg, Anita (1895): Gebt acht, solange noch Zeit ist!. – In: Die Frauenbewegung : Revue für die Interessen der Frau, Nr. 2, S. 4 – 5)