Vogelfrei

Minna Cauer, 1902

Der Paragraph 361 [Abs.] 6 des Strafgesetzbuches zeitigt die unerhörtesten Vorkommnisse, die wohl jemals ein gesittetes Volk auszuweisen hat. So lange es aber Paragraphen wie den untenangeführten in seinem Gesetzbuch läßt, so lange steht es nicht auf der Höhe sittlicher Anschauung. Daß die deutsche Frau höher gewertet wird, als anderswo, ist längst als ein Märchen erkannt, als eine Sage, welche man noch Kindern oder kindlichen Gemütern vorschwatzen mag. Wir wissen es besser! Die Frauen haben gelernt, die Dinge anzusehen, wie sie in Wirklichkeit sind und ach! alle Romantik, jegliches Träumen von Hochschätzung und Verehrung ist dahin! Möglich, daß nach der phrasenvollen Anbetung die Reaktion doppelt scharf eingesetzt hat und alles als unwahr erkennen läßt. Möglich, daß sich aus dieser völligen Umkehr dessen, wie es einst war, ein erquicklicherer und vertrauenerweckender Zustand entwickeln kann, ein Zustand, der für alle Teile im Volke sicherlich versittlichend wirken dürfte.

Vorläufig verschärfen sich nur noch die Gegensätze! Sie verschärfen sich, weil man den Frauen gegenüber von Seiten der Polizei jetzt eine Taktik verfolgt, welche jede Frau, die nur einigermaßen Ehrgefühl hat, in sittliche Entrüstung bringen muß, denn das Verfahren der Polizei beweist nur eins schlagend – die tiefe Einschätzung der deutschen Frau, ihre Niedrigstellung, ihre Geringwertung. Sicher kann jeder ebenfalls einer möglichen Arretierung gewärtig sein, aber eine solche kann und darf nur geschehen, wenn irgend welche gravierende Tatsachen vorliegen, oder wenn der Betreffende einer solchen verdächtigt wird; einer derartigen Arretierung ist die Frau ebenfalls unterworfen und beklagt sich darüber im Interesse der öffentlichen Ordnung nicht. Die deutsche Frau aber ist außerdem vogelfrei, der § 361, [Abs.] 6 gibt jedem Schutzmann das Recht, jede Frau auf den Verdacht hin zu arretieren, daß er sie für eine Dirne hält. Weder arm noch reich, weder hoch noch niedrig, weder die Frau in üppiger Toilette, noch diejenige in schlichtem Gewande, weder die Langsamgehende, noch die Schnelleinhereilende, weder die mit langem, noch die mit kurzem Haar und so ad infinitum, ist sicher vor der brutalen Behandlung eines Schutzmannes. Er hat eben auf Frauen zu fahnden; bringt er nicht genügend zur Strecke, so verschärft man die Vorschriften und diejenige Frau, welche dem Schutzmann in irgend einer Weise mißfällt, muß daran glauben.

So liegen die Dinge klipp und klar vor uns! Da ist auch nicht ein einziger Punkt, der anders gedeutet werden könnte und wenn eine von den deutschen Frauen das versucht, so muß man ihr nicht allein alles Ehrgefühl, nein, alles Schamgefühl absprechen.

Wir gehen hier nicht auf die einzelnen Fälle weiter ein. Unser Blatt versucht soviel wie möglich diese trostlosen Dinge ans Tageslicht zu zu ziehen. Es ist eine traurige Aufgabe, welche wir zu erfüllen haben, sie muß jedoch erfüllt werden, – das sehen wir als unsere heilige Pflicht an. Hierbei heißt es nicht: Hie fortschrittlich, hie gemäßigt, hie evangelisch, hie katholisch, hie bürgerlich, hie sozialdemokratisch. Es schweigen alle Gegensätze, wenigstens bei denjenigen, welche die Initiative zur Besserung so schwerer sittlicher Schäden ergreifen.

Dürfen wir uns bei unseren Zuständen noch wundern, wenn sich unsere der männlichen Sittenauffassung Rechnung tragende Presse weit mehr darüber aufregt, daß einmal eine Frau sich energisch gegen die auch gegen sie versuchte Polizeiwillkür zu wehren weiß, als über den Tatbestand, der das für sie notwendig machte. Nein, wahrlich nicht! Wer in dem in voriger Nr. d. Bl. kurz gemeldeten, durch ihre Beschwerdeschrift an den Gemeindevorstand von Weimar genügend charakterisierten Falle Dr. Augspurg muß festgestellt werden, daß sich zwar die gute Presse durchweg anständig und taktvoll benommen hat, die frauenfeindliche Presse aber derartig, daß wir kein Wort finden können, das scharf genug wäre, das Verhalten dieser Presse genügend zu kennzeichnen. Raum wird von Weimar aus der „restifizierte“ Schutzmann von seiner Behörde in Schutz genommen und trotz seiner Restifizierung als ein unschuldvoller Engel hingestellt, so fällt man über alles her, über Gang, Tracht, Schnitt des Gesichts, Handbewegung und dergleichen mehr. Das praktische englische Straßenkostüm, das Millionen von Frauen tragen, wird zum „Reformkostüm der Emanzipierten, irgend ein Blick wird als „auffälliges Gebahren“ gestempelt u.s.w. Es bäumt sich etwas in uns auf, wenn man diese Zeitungsstimmen liest, die sich nicht genug tun können die zu Unrecht Sistierten zu schmähen. Niemals sind die Federn so eifrig gewesen, wenn es sich um Kokotten, um die Damen der „Demi-Monde“, um vornehme Verbrecherinnen, Heiratsschwindlerinnen und Kupplerinnen gehandelt hat, als jetzt, wo man es mit „Persönlichkeiten“ und „charaktervollen Frauen“ zu tun hat.

So niedrig wertet man das so hochgepriesene deutsche Weib! Die Jagd ist frei, hoch lebe die deutsche Gesittung! Wir wissen, daß viele hunderte von Fällen vorkommen, die nicht an die Oeffentlichkeit dringen. Nur wenige Frauen und Mädchen haben den Mut, das, was ihnen zustößt, der Oeffentlichkeit zu übergeben. Das ist zu beklagen, nur aus den Mitteilungen, die uns zugehen, ersehen wir, wie gefährdet die anständige und ehrenhafte Frau in deutschen Landen ist. Und darum werden wir nicht schweigen, dürfen wir nicht schweigen! Es wäre Feigheit!

Die Berliner fortschrittlichen Frauen werden daher im Gesamtinteresse der deutschen Frauenwelt am ersten Dezember eine öffentliche Versammlung einberufen, um die Mißgriffe der Polizei zur Sprache zu bringen. Unseres Erachtens sollten an ein und demselben Tage in allen Städten Deutschlands Frauenprotestversammlungen gegen den § 361, [Abs.] 6 stattfinden. Und wenn das nicht zu bewerkstelligen ist, so erwarten wir von den deutschen Frauen, daß sie dieses Mal einmütig zusammenstehen und entweder durch persönliches Erscheinen unter uns, oder durch zustimmende Kundgebungen, die event. gesammelt an maßgebende Stellen übergeben werden könnten, diese Versammlung unterstützen. Was wir tun, ist nicht so leicht wie man es immer hinzustellen beliebt. Wir tun es jedoch für Deutschlands Frauenwelt! Es ist die höchste Zeit, daß ein Sturm der Entrüstung durch dieselbe braust.

(Quelle: Cauer, Minna (1902): Vogelfrei. – In: Die Frauenbewegung : Revue für die Interessen der Frau, Nr. 22, S. 169 – 170)

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