Helene Stöcker zum 80. Geburtstag von Hedwig Dohm

Hedwig Dohm
Helene Stöcker, 1913

Unserer ältesten Mitarbeiterin, unserem ältesten Mitgliede haben wir heute zu ihrem vor kurzem vollendeten 80. Lebensjahre Glück zu wünschen und zu danken. Unserer ältesten? Das ist das Schönste und das Erquickendste vielleicht an dieser Persönlichkeit, daß sie mit so tiefem Verstehen alles umfaßt; Leben und Tod, Jugend und Alter – nicht als etwas sich Fremdes, Unvereinbares, weit Auseinanderklaffendes, sondern als Zustände, die sich sehr wohl miteinander vertragen: die Fähigkeit zum Schaffen, zur Freude, die jung erhält, und zugleich auch die Schönheit und das Glück der Reife und Beseeltheit des Alters, das mild über allem Menschlichen steht. Diese ausgezeichnete tapfere Kämpferin, die vor vierzig, fünfzig Jahren vorgedacht, vorgefühlt hat, was erst in diesen letzten Jahrzehnten den anderen zum Bewußtsein kam, sie ist doch zugleich noch mehr als eine tüchtige Kämpferin in einer Zeitbewegung. Sie hat den „Ewigkeitszug“, der sie erkennen läßt, daß auch diese Kämpfe des Tages nur einen Zeitwert haben, daß in einer natürlichen historischen Entwicklung auch die Frauen, für deren Menschwerdung sie mit Recht kämpft, einst alle die Rechte haben werden, die auch für sie „unantastbar wie die Sterne am Himmel hängen“ – daß aber die Eroberung dieser Rechte auch nur eine Etappe in der Weltnotwendigkeit sein wird, daß neue Fragen, neue Rätsel auftauchen, neue Schläfer und neue Wecker.“

In der Fülle der Hymnen, die jetzt zu Hedwig Dohms Preise ertönten, hat man – so scheint mir – meist nur der Kämpferin gedacht und ist dem starken dichterisch-philosophischen Zug ihres Wesens, ihrer mystischen Innigkeit nicht gerecht geworden. Sie weiß, was dem Menschen Tiefe, Wert und Adel gibt, ja, ihm auch allein das einzige wahre Glück geben kann, das ist die Fähigkeit seelischer Hingabe an irgend etwas, das, was die Menschen mit der Kraft religiöser Inbrunst erfüllt, was sie ihren „Gott“ nennen.

So kennt man Hedwig Dohm nur zu einem Teil, wenn man nur ihrer scharfen Kampfschriften, wenn man nicht auch wieder ihrer dichterische Werke gedenkt. Was sie in „Sibylla Dalmar“, „Schicksale einer Seele“, „Christer Ruland“ und den „Schwanenliedern“ geboten, hat, das sind Dichtungen, die weit über bloße Tendenzschriften hinausragen. Es sind, scheint es mir, Beiträge zu der „Tragödie des tiefsten Schmerzes, die noch nicht geschrieben worden ist, wie Hedwig Dohm meint: wie ein Mensch zugleich Greis und ein Werdender ist, zugleich welkt und eben erblüht.“

Da ist in der Novelle „Benjamin Heiling“ z. B. der Volksschullehrer, der pensioniert wird und dem dann erst, als er scheinbar verbraucht ist, die Welt der Bildung, der Dichtung und Wissenschaft sich erschließt – dem neue Sonnen in seinem Innern aufgehen, sein ganzes Inneres in Revolutionen erbeben lassen. Wie den reifen Manne dann die Wonne des Erkennenden, Werdenden, Erwachenden überfällt, den eine tiefe innerliche Frömmigkeit emporhebt, der in heiligem Schauern ahnt, daß auch die Götter mit den Menschen wachsen. Wie dann dem Manne, der sich alt geglaubt und der doch nun erst jung wird, die Liebe entgegengebracht wird von der jungen Freundin, die ihn, wie Antigone den blinden Oedipus, in diese neue Welt erst eingeführt hat, und die meint: „Die Liebe erlebt jeder Einzelne als etwas Urneues in der Welt. Da gibt es keine Schablone, keine Norm, kein Allgemeingültiges. Die Leute sagen: Jugend gehört zu Jugend. Sie geruhen sogar die genau zueinander passenden Lebensalter zu bestimmen, weil das natürlich wäre, sagen sie. Natürlich, dem Wilden ist es natürlich, seinen Feind aufzufressen – mir nichtstimmen, weil das natürlich wäre, sagen sie. Natürlich, dem Wilden ist es natürlich, seinen Feind aufzufressen – mir nicht. Und was ist der Seele natürlich? Wer vermißt sich, es zu wissen? Im Reich der Psyche gibt es keine Diktatur. Die Leute, sie wissen immer nur, was ihre Großeltern und Urgroßeltern auch schon wußten, und dann schreiben sie immer alles gleich auf unzerbrechliche Tafeln. In den Sand müßten sie solche Maximen schreiben, damit der Wind sie bald verwehe.“

Und von einer anderen, als einer allgemeinen Feld- und Wiesenliebe weiß diese Marion, die meint: „Soll ich wieder einen Jüngling lieben, wie jenen, den ich geliebt habe? Jünglinge sind zum Tanzen, zum Küssen, zum Unsinnreden, wohl auch zum Zeugen eines Kindes – aber sie ernst mit Inbrunst der Seele zu lieben? Nein, dazu sind sie mir zu aufflackernd, zu lichterloh, zu flach. Anfänger des Lebens, diese Jünglinge. Höchstens sind sie ein Versprechen, selten lösten sie es ein. Ich kann nur den vollendeten Menschen lieben, der Tiefe hat und Geheimnis. In Dir, Benjamin, liebe ich alle Lebensalter: in Deiner naiven Unerfahrenheit liebe ich das Kind, in deiner sehnsüchtigen Idealität den Jüngling, in der tiefen Andacht Deines Denkens den Mann, und in Deiner sinnenden Melancholie würde ich das Alter lieben, aber Du bist nicht alt. Dein Alter ist mir gleichgültig. Es geht mich nichts an. Ich liebe nicht mit den Augen. Zuerst, zu allererst liebe ich den Menschen in dir, den Mann nur nebenbei.“

Und wenn er ihr dann entgegnet, ob ihr denn der Sinn für die Schönheit der Jugend fehle, wenn sie so mit einem rede, der weiße Haare habe, dann antwortet sie ihm: „Benjamin Heiling, er ist schön. Sein Genius hat in seine Züge alles Hohe und Holde geschrieben, was er hatte leben, was er hätte dichten müssen. Weiß wäre sein Haar, nicht weiß, in silbernen Locken wallt es über seine hohe Stirn von Bronze. Seine lichten blauen Augen haben den himmlischen Blick des Sehers, metaphysische Augen. Benjamin Heiling hat den Kopf einer antiken Bildsäule. Er hat etwas von der Schönheit zukünftiger Menschen.“

Von der Schönheit zukünftiger Menschen, von der Schönheit zukünftiger Lebens und Liebesmöglichkeiten hat Hedwig Dohm in ihren Werken manches geahnt und uns ahnen gemacht. Wer sich in ihren Entwicklungsromann der „Schicksale einer Seele“ vertieft, der das Leben einer eigenartigen, feinen, äußerlich wehrlosen und doch innerlich immer mehr erstarkenden Frau schildert, das in die Mitte des vorigen Jahrhunderts fällt, die ihre Entwickelung in derselben Zeit etwa erlebt, in der sich Hedwig Dohms eigenes Werden abgespielt hat, der wird tiefe Einblicke gerade in ihr Wesen tun. In die Hilflosigkeit und Wehrlosigkeit eines unsäglich sensiblen, reich angelegten, scheuen Kindes einer derben ahnungslosen Mutter gegenüber, die Qual dieser Kindheit durch diese mangelnde mütterliche Liebe, die tiefen Eindrücke der achtundvierziger Revolution, die gleiche Hilflosigkeit wie bei der Mutter dem ebenso derben, genußfrohen wie skrupellosen Ehegatten gegenüber, der erschütternde Verlust des Kindes, das ihr endlich zum erstenmal Glück und Heimatgefühl geschaffen hatte, die tiefe Entäuschung dann, als ihr, die man als Todeskandidatin nach Italien gesandt hat, zum erstenmal in der Glut des Südens auch die Glut der Leidenschaft zuteil wird, und wie endlich die ganz Einsame und Genesende sich loslöst von der Heimat, von dem Gatten, der ihre Rückkehr als eine Enttäuschung empfinden würde, um in der indischen Philosophie den Trost und die Ruhe zu finden, die ihr alle Menschenbeziehungen bisher nicht gegeben haben.

Die Dichterin selbst hat sich nicht nur der quietistischen Betrachtung hingegeben, sondern hat bis zur Stunde versucht, beides in ihrem Leben, in ihrem Wesen zu vereinen: die Tiefe des Denkers, die Glut des Dichters und die Kraft des Kämpfenden und Hoffenden. Wer je die zierliche Gestalt mit den ergrauten Locken und den großen Augen gesehen hat, der wurde unwillkürlich an die Zeit jener großen Frauen erinnert, die uns heute so fern zu liegen scheint: der Frauen der Romantik, jener Karolinen, Rahel und Bettinen, denen auch Hedwig Dohms Liebe stets gehört hat. Und wenn dem jungen, werdenden Menschen auch ihr Wort, das ich einmal von ihr hörte, daß das Alter eigentlich die schönste Zeit des Lebens sei, noch wunderbar und wenig verständlich klingen mag – es ist eine wunderbare Perspektive für uns alle, unser Leben, unser Empfinden und Denken so gestalten zu können, daß wir in der Tat immer reicher und tiefer, anstatt trauriger, matter und ärmer werden. Und auf dem Weg zu diesem hohen Ziel menschlicher Veredelung hat Hedwig Dohm durch ihr Schaffen und Leben uns einen wesentlichen Beitrag gegeben, – hat die „ewige Jugend“, nach der unser Sehnen geht, in sich schon verwirklicht.
H.St.

(Quelle: Stöcker, Helene (1913): Hedwig Dohm. – In: Die neue Generation : Publikationsorgan des Bundes für Mutterschutz und der Internationalen Vereinigung für Mutterschutz und Sexualreform, Nr. 10, S. 542 – 544)

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