Stimmen der Vergangenheit: Virginia Woolf 1931

Virginia Woolf 1902, Public Domain, Foto: George Charles Beresford

Virginia Woolf kam 1882 in London zur Welt. Die Schriftstellerin ist neben Simone de Beauvoir die bedeutendste Feministin des 20. Jahrhunderts. – Der nachfolgende Text ist ein Auszug aus ihrer Rede vor der „National Society for Women’s Service 1931.

Virginia Woolf 1902, Public Domain, Foto: George Charles Beresford

In meinem Beruf – der Literatur – wurde der Weg schon vor langem bereitet. Sie brauchen sich nur ein kleines Mädchen (mit einer Feder in der Hand in einem Schlafzimmer) vorzustellen, ein Mädchen, das viele Federn und Papier zur Verfügung hatte. Dann kam ihr der Einfall, etwas zu tun, was nur eine Penny-Briefmarke kostet – einen Artikel an eine Zeitung zu schicken; und dem Herausgeber dieser Zeitung vorzuschlagen, man mochte ihr erlauben, sich an der Rezension eines Buches zu versuchen.

So wurde ich Rezensentin. Und so erhielt ich am ersten Tag des folgenden Monats einen Scheck über ein Pund sieben Schilling und Sixpence: Ich gestehe, daß ich, statt das Geld für Brot und Butter, für Schuhe und Strümpfe (für Notwendigkeiten) zu verwenden, mich aufmachte – ruhmgeschwellt – und eine Katze kaufte – eine wunderschöne Katze, eine Perserkatze.

Aber schließlich ist die Geschichte doch nicht ganz so einfach. Es spielt ein Schurke darin mit. Der Schurke war nicht, ich sage es mit Bedauern, unser alter Freund, der Mann. Der Schurke in meiner Geschichte war eine Frau, und ich schlage vor, sie nach einer Gestalt einem wohlbekannten Gedicht den Engel im Hause zu nennen.

Sie, die Sie aus einer jüngeren und glücklicheren Generation stammen, haben vielleicht nicht vom Engel im Hause gehört. Deshalb will ich ihn beschreiben. Sie war die Frau, wie Männer sich die Frauen wünschen. Sie war voll inniger Anteilnahme. Sie war unendlich liebenswürdig. Sie war gänzlich selbstlos. Sie war unübertroffen in den schwierigen Künsten des Familienlebens. Sie glättete, beschwichtigte opferte sich auf, nahm das Aufgewärmte, wenn genug Hähnchen nur für einen da war, und war kurzum so beschaffen, daß sie nie einen eigenen Wunsch oder Kopf hatte, sondern es immer vorzog, mit den Wünschen und Köpfen anderer übereinzustimmen. Vor allem – ich hoffe, ich brauche nicht zu sagen – war sie keusch. Es gab sehr viele Dinge, die man nicht sagen konnte, ohne daß ihr die Röte auf die Wangen zu treiben.

Fast jedes achtbare viktorianische Haus hatte seinen Engel. Und als ich zu schreiben begann – obgleich ich selber kein Engel war – gab es einen Engel bei mir im Haus. Der Schatten ihrer Flügel fiel auf das Blatt; ich hörte das Rauschen ihrer Röcke im Zimmer.

Als ich Rezensionen zu schreiben begann, stahl sich der Engel im Hause hinter mich und sagte; „Du hast dich in eine sehr sonderbare Lage gebracht. Du bist jung und unverheiratet. Aber du schreibst für eine Zeitung, die von Männern herausgegeben wird. Du rezensierst sogar ein Buch, das ein Mann geschrieben hat. Deshalb, was du auch immer schreiben magst, laß es für die Männer angenehm sein. Sei einfühlsam; sei sanft; schmeichle; brauch alle Listen und Ränke, die ich, Gott helfe mir, gebraucht habe, bis mich die ganze Sache angeekelt. (Der Engel sprach manchmal so zu einer Frau wenn sie allein waren). Aber glaube mir, es ist absolut notwendig. Verstöre sie nie mit der Idee, daß du einen eigenen Kopf hast. Und vor allem sei keusch.“

Damit machte sie Anstalten, mir die Feder zu führen.

Ich kehrte mich gegen diese Engelgestalt und ging ihr an die Kehle. Ich tat was ich konnte, sie umzubringen. Meine Rechtfertigung – würde ich vor Gericht gestellt und wegen Mordes angeklagt – wäre Notwehr gewesen. Hatte ich sie nicht getötet, dann sie mich – als Schriftstellerin.

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