Pionierinnen der Neuen Frauenbewegung

Helke Sander

Pionierinnen der Neuen Frauenbewegung

Helke Sander ist Filmemacherin und hielt 1968 die berühmte „Tomatenrede“. Sie war Mitbegründerin der Berliner Kinderläden und gründete 1971 die Gruppe Brot und Rosen sowie 1974 die Zeitschrift Frauen und Film.

Sander bricht aus

Helke Sander wurde 1937 in Berlin geboren. Ihr Vater war Ingenieur, die Mutter Hausfrau. Helke erlebte ein klares Machtverhältnis zwischen den Eltern: „Mein Vater hat alles bestimmt und meine Mutter hatte nichts zu sagen.“[1] Die Tochter habe ihrer Mutter „oft dazu geraten, dass sie sich scheiden lässt. Aber sie hatte auch Angst davor, weil mein Vater ihr gesagt hat: ‚Dann kannst du von gar nichts leben. Von mir kriegst du nichts!‘ (…) Also, es gab große Auseinandersetzungen darüber, was Frauen dürfen und was sie nicht dürfen.“[2] Helke Sander beschloss, sich aus diesen Zwängen „zu befreien“[3] und „Sachen zu machen, die mich interessieren“[4].

Nach dem Abitur machte Sander in Hamburg eine Ausbildung zur Schauspielerin. Sie heiratete einen finnischen Schriftsteller und zog mit ihm nach Finnland, wo 1959 der gemeinsame Sohn geboren wurde. In ihrer Schwiegerfamilie wie überhaupt in dem Land, das 1906 als erstes europäisches Land das Frauenwahlrecht eingeführt hatte, erlebte sie völlig andere Rollenbilder. Die Mutter ihres Mannes war Lehrerin und Schriftstellerin. „Meine Schwiegermutter fand ich ungeheuer, sowas kannte ich als Frau in Deutschland nicht. Die war so selbstständig und selbstbewusst. (…) Und sie hatte Freundinnen, die waren genauso. Und die haben sich über Politik unterhalten.“[5] Der Schwiegervater, ein Abgeordneter „hat selber das Bett gemacht oder hat sein Hemd gebügelt, das hab ich vorher noch nie gesehen gehabt. (…) Das hat mich schon sehr beeindruckt. Ich dachte: Das ist Emanzipation!“

Helke Sander war als Mutter selbstverständlich berufstätig. Sie machte ihre ersten Regiearbeiten für das finnische Arbeitertheater und wurde Redakteurin bei einem kommerziellen Fernsehsender. 1965 ging sie mit ihrem Kind zurück nach Deutschland und begann ein Studium an der Deutschen Film- und Fernsehakademie. Dort gehörte sie zu den ersten drei Frauen, die an der Akademie aufgenommen wurden. Sander musste neben dem Studium das Geld für den Lebensunterhalt für sich und ihren Sohn verdienen, bekam aber dennoch keinen Kindergartenplatz. „Damals war es vollkommen ausgeschlossen, einen Kindergartenplatz zu bekommen. Und wenn das doch mal jemandem gelang, dann waren das schreckliche Verhältnisse.“[6]

Die Kinderladenbewegung

Im Sommer 1967 trat Sander in den Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) ein, weil sie sich für politische Themen von Vietnam bis Springer-Presse interessierte. Sie musste allerdings feststellen, dass ihr wie so vielen – auch nicht alleinerziehenden – Müttern, aufgrund der fehlenden Kinderbetreuung die Zeit für dieses politische Engagement fehlte. Im Dezember 1967 beschloss sie, gemeinsam mit Marianne Herzog (die später zur RAF ging) vor der Freien Universität ein Flugblatt zu verteilen, um mit anderen Frauen sogenannte „Kinderläden“ zu gründen: In leerstehenden Tante-Emma-Läden wollten die Frauen gemeinsam Kinderbetreuung organisieren und „die Ziele der Erziehung jetzt selber definieren“.[7]

Zum ersten Treffen im Januar 1968 erschienen rund 100 interessierte Frauen. Bald darauf öffneten die ersten fünf Kinderläden. „Dieses erste Treffen wirkte wie ein Urknall“[8], erinnerte sich Helke Sander. „Es fiel uns gewissermaßen wie Schuppen von den Augen, dass es so etwas in unserem Leben bisher nicht gegeben hatte: Dass Frauen gemeinsam beschließen, einen Missstand zu beheben, ohne vorher einen Mann um Rat gefragt zu haben.“[9] Tatsächlich übernahmen die „empörten“[10] Männer bald die erfolgreiche Kinderladen-Initiative der Berliner Frauen und gründeten den „Zentralrat der antiautoritären Kinderläden“.

Der Aktionsrat zur Befreiung der Frau

Aus der Kinderladengruppe entstand der Aktionsrat zur Befreiung der Frau. Der Aktionsrat kritisierte in mehreren Flugblättern („Genossen, eure Veranstaltungen sind unerträglich!“[11]) das „manipulative Politikverständnis von Männern, die meinten mit dem ritualisierten, stakkatohaften Ho Chi Minh-Geschrei ihrer Ansicht zum Vietnamproblem Ausdruck verleihen zu müssen“[12]. Und die Frauen im Aktionsrat lasen Bücher wie Betty Friedans „Weiblichkeitswahn“ oder Beauvoirs „Das andere Geschlecht“ und entdecken erste Spuren „früherer Frauenbewegungen“.[13]

Die Frauen im Aktionsrat zur Befreiung der Frau machten sich „zum ersten Mal gemeinsam klar, dass Frauen in allen Klassen nicht die gleichen Rechte hatten wie die Männer. Es ist heute schwer vorstellbar, dass das mal etwas Neues war. Dass die Männer in den ausgebeuteten Klassen und in der Dritten Welt auch unterdrückt waren, aber immer noch Frauen zum Draufhauen hatten, bekam Wichtigkeit. Neue Begriffe wie Patriarchat und Feminismus tauchten in unseren Diskussionen auf und wurden von vielen sozialistisch geschulten Männern und Frauen aufs heftigste bekämpft.“[14] Die Probleme der Frauen, so hieß es, könnten „erst nach einer erfolgten sozialistischen Revolution gelöst werden. Vorerst seien wir ein ‚Nebenwiderspruch‘“.[15]

Von Delegierten und geworfenen Tomaten

Am 13. September 1968 hielt Helke Sander auf dem 23. Delegiertenkongress des SDS in Frankfurt ihre berühmt gewordene Rede, in der sie das Unterdrückungsverhältnis zwischen Männern und Frauen auch und gerade im SDS thematisierte. Sie erklärte, dass die Artikulierung dieses Konfliktes „auf eine einfache Weise vermieden (wird), nämlich dadurch, dass man einen bestimmten Bereich des Lebens vom gesellschaftlichen Leben abtrennt, ihn tabuisiert, indem man ihm den Namen Privatleben gibt“ (…) Diese Tabuisierung hat zur Folge, dass das spezifische Ausbeutungsverhältnis, unter dem die Frauen stehen, verdrängt wird.“[16]

Sander kritisierte die so selbstverständliche alleinige Zuständigkeit der Frauen für Haushalt und Kindererziehung, die sie daran hinderte, sich beruflich und persönlich zu entfalten, und die in der Beziehung zwischen Männern und Frauen für ein Machtverhältnis sorgte. Sie forderte deshalb „den Klassenkampf auch in die Ehe und in die Verhältnisse zu tragen. Dabei übernimmt der Mann die objektive Rolle des Ausbeuters…“.[17] Fazit: „Wir können die gesellschaftliche Unterdrückung der Frauen nicht individuell lösen. Wir können damit nicht auf Zeiten nach der Revolution warten, da eine nur politisch-ökonomische die Verdrängung des Privatlebens nicht aufhebt, was in allen sozialistischen Ländern bewiesen ist.“[18] Und schließlich erklärte Sander: „Wenn ihr zu dieser Diskussion nicht bereit seid, dann müssen wir, der Aktionsrat zur Befreiung der Frau, feststellen, dass der SDS ein konterrevolutionärer Verband ist.“[19]

Als die Genossen nicht zur Diskussion bereit waren, sondern nach der Mittagspause zur Tagesordnung übergehen wollten, warf SDS-Mitglied Sigrid Rüger – die gegen Widerstände durchgesetzt hatte, dass Sander überhaupt sprechen durfte – mehrere Tomaten, die sie in der Pause speziell zu diesem Zweck eingekauft hatte, in Richtung der führenden SDS-Männer. In der Folge des berühmten Tomatenwurfs gründeten sich an vielen Universitäten sogenannte „Weiberräte“, die eine größere Beteiligung von Frauen im SDS forderten und die von Sander kritisierten gesellschaftlichen Machtverhältnisse zum Thema machten.

Die Zersplitterung des Aktionsrates

Doch schon bald zerfaserte die Bewegung zwischen K-Gruppen, Hippies und der RAF. Im Berliner Aktionsrat für die Befreiung der Frau „begann die Zersplitterung mit dessen so genannter ‚feindlicher Übernahme‘ 1969 durch eine Gruppe um Frigga Haug, aus der dann der Sozialistische Frauenbund Westberlin hervorging. Diese Gruppe wollte das Chaos im Aktionsrat beenden, indem sie strenge Schulungen verordnete. (…) Das war ein Grund für feministisch gesinnte Frauen, den Aktionsrat zu verlassen…“[20] Auch Helke Sander zog sich aus dem SFB zurück und konzentrierte sich auf ihren Beruf als Filmemacherin. In ihren Dokumentationen Kindergärtnerin, was nun? und Kinder sind keine Rinder spiegelte sich ihr Engagement für die Kinderläden. 1971 drehte sie Eine Prämie für Irene, ihren ersten Spielfilm: „Sander porträtiert Irene, eine alleinerziehende Mutter und Arbeiterin in einer Waschmaschinenfabrik. Im Alltag lässt sie sich nichts gefallen, weder die Ungleichbehandlung im Betrieb noch die sexuelle Belästigung durch Männer. Doch klar ist: Ohne solidarische Geschlechtsgenossinnen wird sie keine Chance haben.“[21]

Am 6. Juni 1971 erschien der Stern mit dem Titelbild „Wir haben abgetrieben“. Das Bekenntnis der 374 Frauen „Ich habe abgetrieben und fordere das Recht dazu für jede Frau“, das zum Auslöser der Frauenbewegung in Deutschland wurde, „erschloss ganz neue Bevölkerungsschichten, weil fast alle Frauen mit dem Thema auf die eine oder andere Weise schon Erfahrungen gesammelt hatten. Nahezu ausnahmslos setzten sich die Frauen für die ersatzlose Streichung des Paragraphen ein, was sich in unglaublich vielen Demonstrationen, Aufklärungsbroschüren, Flugblättern, Abtreibungssprechstunden und kollektiven Kirchenaustritten ausdrückte und allmählich auch den schon existierenden Parteien eine engagierte Frauenpolitik bescherte.“[22]

Brot und Rosen

Im Herbst 1971 gründete Helke Sander, gemeinsam mit der Künstlerin Sara Schumann und der Krankenschwester und späteren Buchautorin Verena Stefan (Häutungen), die Initiative Brot und Rosen. Die bald zwölfköpfige Gruppe gab im August 1972 das Frauenhandbuch Nr. 1 heraus, in dem es um das Thema „Abtreibung und Verhütungsmittel“ ging. Für das Handbuch befragte Brot und Rosen Ärzte zum Thema Pille und Abtreibung „und waren verblüfft, dass die gar nichts wussten oder zu wenig wussten“[23]. Zu den Forderungen, die die Frauengruppe im Buch stellte, gehörten „schonende Abtreibungsmethoden“, „Abtreibung auf Krankenschein“ und der „Schutz der Frauen in der Dritten Welt vor Missbrauch durch die chemische Industrie“. Das Frauenhandbuch, das die Initiative im Selbstverlag herausgab, fand reißenden Absatz, bald waren 30.000 Exemplare verkauft. Die Folge: Leserinnen kontaktierten die Herausgeberinnen, die nun eine Abtreibungsberatung im Frauenzentrum in der Berliner Hornstraße einrichteten, die sie aufgrund des Andrangs kaum bewältigen konnten.

1973 machte Sander, gemeinsam mit Sara Schumann, den Film Macht die Pille frei? Die einstündige Dokumentation im Auftrag des NDR untersuchte das Wissen von Frauen und Männern über die Pille, thematisierte aber auch kritisch, „dass die Frauen damit auch verfügbarer wurden“ und „dass die Pille nicht richtig erforscht worden ist“[24]. Auch der Film Männerbünde von Sander und Schumann kam im selben Jahr heraus.

Filmerische Tätigkeiten

Ebenfalls 1973 initiierte Helke Sander, gemeinsam mit Filmemacherin Claudia von Alemann, in Berlin das 1. Internationale Frauenfilmseminar, auf dem 45 Filme von Frauen aus sieben Ländern gezeigt wurden. Es gilt als das erste Frauen-Filmfestival der Welt. Ein Jahr später erschien die erste Ausgabe der Zeitschrift Frauen und Film, die erste feministische Filmzeitschrift in Europa. Helke Sander war bis 1981 deren Herausgeberin.

1974 veranstaltete Brot und Rosen einen Kongress an der TU Berlin, um die zweite Ausgabe des Frauenhandbuchs herauszugeben. Außerdem präsentierte die Initiative eine spektakuläre Aktion: Sie hatte mehrere Berliner Gynäkologen angezeigt, darunter ein „berühmter Vertreter der Ärzteschaft, der gegen die Abtreibung war. Der hieß im Volksmund ‚Die goldene Kürette‘, weil der heimlich teure Abtreibungen machte – war aber offiziell dagegen.“ Ein zweiter Arzt „war damals so alt wie ich jetzt bin, 84, und der war halbblind und der hat Abtreibungen gemacht.“[25] Obwohl die Ärzte Straftaten begingen und es sich um ein „Offizialdelikt“ handelte, wurden die Anzeigen nicht verfolgt, und der „Riesenskandal irgendwie vertuscht“[26].

1975 entstand auf Initiative französischer Filmemacherinnen die Initiative Film Women International, der u.a. Agnès Varda, Valie Export und Susan Sontag und aus Deutschland Helke Sander und Claudia von Alemann angehörten.

Ab 1977 erschienen mehrere Filme von Helke Sander, in denen sie sich mit ihrer Situation als alleinerziehende Mutter und berufstätige Frau befasste: Die allseits reduzierte Persönlichkeit – Redupers (1977) oder auf das Aufbegehren der Frauen 1968 zurückblickte: Der subjektive Faktor (1980).

Insgesamt drehte Helke Sander über 30 Filme und verfasste mehrere Bücher. Für ihre Kurzfilmreihe Aus Berichten der Wach- und Patrouillendienste erhielt sie 1985 den Goldenen Bären der Berlinale. 1992 behandelte sie in ihrer dreistündigen Dokumentation BeFreier und BeFreite ein Tabuthema: die Massenvergewaltigungen deutscher Frauen durch russische Soldaten in Berlin bei Kriegsende 1945. Nach zehn jähriger Recherche lieferte Sander die ersten seriösen Zahlen und ließ Augenzeuginnen von ihren Erlebnissen berichten. Obwohl Sander die Vergewaltigungen osteuropäischer und russischer Frauen durch die deutschen Besatzer im Film keineswegs verschwieg, wurde ihr vor allem aus dem linken Spektrum „Revisionismus“ vorgeworfen: Sie klage die russischen Soldaten an, um von den Nazi-Verbrechen der Deutschen abzulenken. Heute gilt BeFreier und BeFreite, das 1995 auch als gleichnamiges Buch erschien, als historischer Meilenstein zum Thema sexuelle Kriegsgewalt gegen Frauen.

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Videoclips

Interviewtranskript

Fußnoten 

[1] P17-Sand-01, Interview mit Helke Sander, Transkript S. 20.

[2] Ebenda.

[3] Ebenda.

[4] Ebenda.

[5] Ebenda.

[6] Sander, a.a.O., S. 1.

[7] Sander, Helke: Resümee – 50 Jahre nach dem Tomatenwurf, S. 15. In: Akademie der Künste (Hrsg.): Die 2. Frauenbewegung im 20. Jahrhundert – und ihre Gegenwart. Reden von Halina Bendkowski und Helke Sander, Berlin, 2018

[8] Ebenda.

[9] Ebenda.

[10] Ebenda.

[11] Akademie der Künste, S. 16.

[12] Ebenda.

[13] Ebenda.

[14] Ebenda.

[15] Ebenda.

[16] Sander, Helke: Rede auf der 23. Delegiertenkonferenz des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS), S. 1. In: Akademie der Künste, a.a.O.

[17] Ebenda, S. 3.

[18] Ebenda.

[19] Ebenda, S. 7.

[20] Ebenda. S. 24.

[21] URL: https://www.berlinale.de/de/archiv-auswahl/archiv-2020/programm/detail/202012195.html/ Zuletzt besucht am: 9.06.2021.

[22] Helke Sander: Resümee – 50 Jahre nach dem Tomatenwurf, a.a.O., S. 24

[23] P17-Sand-01, Interview mit Helke Sander, Transkript S. 11.

[24] Ebenda, S. 12.

[25] Ebenda, S. 17.

[26] Ebenda.

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