Agnes Schmidt, 2001
Über Sexualität, Prostitution, außereheliche Lebensgemeinschaften von Mann und Frau zu reden und zu schreiben, erforderte es Zivilcourage und großes Selbstbewusstsein im kaiserlichen Deutschland im letzten Drittel der 19. Jahrhunderts. Diejenigen, die diese Tabuthemen vor der Öffentlichkeit aufgriffen, haben sich nicht nur Anfeindungen und Beschimpfungen ausgesetzt, sondern in vielen Fällen gerichtliche Verfolgungen eingehandelt. 1882 fand zum Beispiel ein reichsweit aufsehenerregender Prozess in Darmstadt gegen die Frauenrechtlerin Gertrud Guillaume-Schack und ihre Gastgeberin Anna Lesser-Kiesling statt, da sie vor einem „gemischten“ Publikum wagten, einen Vortrag über die herrschende Doppelmoral in der Frage der Prostitution sowie über die harschen Methoden der Sittenpolizei gegenüber alleinstehenden Frauen zu halten. Dank des energischen Auftritts der Vorsitzenden des Darmstädter Frauenvereins Frau Lesser-Kiesling vor dem Gericht wurde von einer Bestrafung abgesehen. Bis zur Freisprechung wurde Frau Lesser-Kiesling allerdings allerlei Schikanen ausgesetzt. In ihrer Abwesenheit durchsuchte die Polizei ihre Wohnung zum Beispiel und holte Erkundigungen über die alleinstehende Frau in der Nachbarschaft ein. Eine, die es um 1900 wagte, den Zusammenhang zwischen Sexualität und Politik zu denken und auszusprechen und auf die rechtlose Lage lediger Mütter und unehelicher Kinder aufmerksam zu machen und dafür Diffamierungen und Beschimpfungen nicht nur von Männern, sondern auch von Frauen erfuhr, war die Philosophin Helene Stöcker. „Klarer zeigt sich doch vielleicht nirgends die ganze Brutalität menschlicher Zustände als auf sexuellem Gebiet“ erkannte die 1901 in Bern promovierte Philosophin bereits am Anfang ihrer journalistischen Tätigkeit. Das zu ändern und das Zusammenleben der Geschlechter auf eine neue Basis zu stellen, mit einem Wort, eine „Neue Ethik“ zu schaffen, wurde nach dieser Erkenntnis Helene Stöckers wichtigstes Ziel, dafür schrieb sie zahlreiche Artikel, Bücher und hielt landesweit Vorträge.
Nach Helene Stöckers Vorstellungen sollte eine moderne Partnerschaft nur aus geistig und ökonomisch unabhängigen Personen bestehen, die von gegenseitiger Achtung erfüllt sind. Sie vertrat die Auffassung, dass die sexuelle Betätigung für Mann und Frau gleichermaßen zur natürlichen Lebensäußerung gehöre und der sittliche Wert des Geschlechtsverkehrs nicht von der Zeugung von Kindern, sondern von der Tiefe und Dauerhaftigkeit der Gefühle beider Partner abhängig sei. Mit dieser Auffassung stand sie den zeitgenössischen Moralvorstellungen diametral entgegen. Kirche und Staat sahen nämlich in Ehe und Familie vor allem eine Institution, die dem Fortbestehen der Gesellschaft dienen sollte, Liebe und Gefühle gehörten zwar dazu, waren jedoch für die Stabilität der Gemeinschaft weniger wichtig. In vielen Ländern Europas war Ehescheidung verboten oder erschwert und außerhalb der Ehe geborene Kinder hatten gegenüber ihren Vätern keine Rechte. Um ihre Ideen zu verbreiten, gründete Helene Stöcker 1905 mit anderen Sexualreformerinnen und -reformern den „Bund für Mutterschutz“ in Berlin. Zu den Gründungsmitgliedern gehörten nicht nur Frauenrechtlerinnen wie Maria Lischnewska, Lily Braun und Hedwig Dohm, sondern auch Männer wie die berühmten Soziologen Werner Sombart, Max Weber und Robert Michels. Andere, wie zum Beispiel der Sozialpolitiker und Reichstagsabgeordnete Friedrich Naumann, lehnten eine Mitgliedschaft aus politischen Gründen ab. Auf Helene Stöckers Aufforderung, dem Bund beizutreten, schrieb Naumann an Helene Stöcker: „Ich teile Ihre Auffassungen sehr weitgehend, aber es ist klar, dass jeder, der diese Probleme öffentlich erörtert, sich in den Verdacht bringt, die Ehe selbst anzugreifen. Ich kann es mir nicht leisten, diese Kritik öffentlich zu üben, ich würde damit mein Reichstagsmandat und damit meine ganze politische Arbeit gefährden „. Die Aufgaben und Ziele des Bundes für Mutterschutz wurden grundlegend in der Satzung geregelt. Paragraph l gibt das Hauptziel an:
„Zweck des Bundes ist es, die Stellung der Frau als Mutter in rechtlicher, wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht zu verbessern, insbesondere unverheiratete Mütter und deren Kinder vor wirtschaftlicher und sittlicher Gefährdung zu bewahren und die herrschenden Vorurteile gegen sie zu beseitigen, sowie überhaupt eine Gesundung der sexuellen Beziehung anzubahnen.“
Die Ziele des Bundes sollten durch Einrichtung von Mütter- und Kinderheimen und Beratungsstellen für ledige Mütter realisiert werden. Außerdem sollte durch Petitionen und Anträge eine Einwirkung auf die Gesetzgeber erfolgen, um die rechtliche Gleichstellung der unehelichen Kinder und die rechtliche Anerkennung der „nichtehelichen Lebensgemeinschaften“ zu erreichen. Mit dieser Forderung vertrat der Bund damals schon Ziele, die erst jetzt in unseren Tagen verwirklicht wurden.
In der von Helene Stöcker herausgegebenen Zeitschrift des Bundes „Die Neue Generation“, die bis Ende 1932 erschien, nahm Helene Stöcker entschieden Stellung für das Recht der Frau auf Geburtenkontrolle und eine Geburtenplanung unter sozialen Gesichtspunkten und kämpfte vehement für die Abschaffung des Paragraphen 218 des Strafgesetzbuches. Für die „Neue Generation“ schrieben zahlreiche prominente Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen und Literaten wie Siegmund Freud, Bertha von Suttner, Rosa Mayreder, Kurt Tucholsky, Alexandra Kollontai, Ricarda Huch. Sie alle traten für eine neue Form des menschlichen Zusammenlebens ein, in der Frauen und Männer befreit von der Lebens- und Sexualfeindlichkeit der christlichen Kirchenlehren als freie, selbstbestimmte Menschen miteinander eine Gemeinschaft bilden.
Da sie auch in ihrem persönlichen Leben an ihren Grundsätzen von „freier Liebe“ „mildem Willen zur Verantwortlichkeit und zur Dauer“ festhielt – sie lebte mit dem Rechtsanwalt Brunhold Springer bis zu dessen Tod 1931 ohne Trauschein zusammen -, waren die Angriffe und die Anfeindungen, die sie bis zu ihrer Emigration 1933 ertragen musste, zahlreich. Helene Lange warf ihr „feministische Gedankenanarchie“ und Alice Salomon, die sonst kluge und besonnene stellvertretende Vorsitzende des Bundes Deutscher Frauenvereine meinte lapidar: „Man schützt die Mutterschaft am besten, wenn man die ledige Mutterschaft als Programm bekämpft.“ Diese Äußerungen zeigen, dass alternative Lebensformen von Paaren oder Müttern mit Kindern außerhalb der bürgerlichen Familie für die meisten Frauen und Männer im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts undenkbar und unerwünscht waren.
Aufgrund ihrer fortschrittlichen sexual-reformerischen Ansichten und ihrer pazifistischen Gesinnung stand Helene Stöcker auf der Todesliste der Nazis und musste 1933, nach dem Reichstagsbrand Berlin fluchtartig verlassen. Über ihre letzten Lebensjahre, die sie in der Emigration in New York verbrachte, ist nur wenig bekannt. Sie starb dort 1943 im Alter von 74 Jahren.
Die von Helene Stöcker ein Leben lang angestrebte rechtliche Gleichstellung des unehelichen Kindes wurde in der Gesetzgebung der Bundesrepublik Deutschland erst am 1. Juli 1970 verankert. Alleinerziehende Mütter kämpfen heute noch um mehr Rechte und Unterstützung und alternative Partnerschaften werden immer noch gegenüber der gesetzlichen Ehe vom Staat benachteiligt.
(Quelle: Agnes Schmidt (2001): Die „Neue Ethik“ der Sexualreformerin Helene Stöcker. – In: Mathilde : Frauenzeitung für Darmstadt und Region, Nr. 55, S. 12 – 13)