Anita Augspurg, 1905
Offener Brief
Sehr geehrte Frau!
Ihr Brief ist der dritte innerhalb vierzehn Tagen, welcher sich mit der Bitte um Rat in gleicher Angelegenheit an mich wendet, und die in ihm enthaltene Frage wird in unserer Zeit, davon dürfen Sie überzeugt sein, nicht von drei, sie wird von hundert Frauen, und zwar von den tüchtigsten unseres Volkes in ernstem Nachdenken erwogen: Gestatten Sie mir daher, Ihnen meine Antwort in öffentlicher Form zu geben, so daß sie möglicherweise nicht nur Ihren Entschluß, sondern auch den mancher anderen Frau stärken kann.
Ihr Brief und die beiden anderen, die ich erwähnte, – ich bekomme solche Briefe andauernd, sie sind typisch, – sind einander so ähnlich wie die Blüten eines Strauches, wie die Entwicklungssymptome einer Zeit. Sie (und andere) haben sich aus eigener Kraft gegen den Wunsch Ihrer Familie einen befriedigenden Lebensberuf geschaffen, Sie sind in den Genuß einer unabhängigen Existenz gelang und Ihrem Erfolge hat sich der Mißmut Ihres Vaters gebeugt; Sie (und andere) sind – nicht im Ballsaale oder bei anderen Gelegenheiten des täuschenden Treibens großer Geselligkeit, sondern unter einfach wahren Umständen einem Manne begegnet, dessen Lebensauffassung der Ihrigen ebensosehr kongenial ist, wie sie der landläufigen zuwiderläuft und Sie haben mit diesem Manne eines Tages als das Herz Sie dazu trieb, aber ohne daß der Termin Freund oder Feind oder der hohen Obrigkeit zuvor gemeldet wurde, eine Ehe geschlossen. Ihr Glück, welches Sie übrigens auch nicht mit der Aengstlichkeit eines bösen Gewissens, sondern nur mit dem Egoismus des nicht gestört sein wollens, hüteten, blieb nicht lange verborgen und Ihre in ihrer gesellschaftlichen Ehre tödlich verletzten Familie verlangt Sühne des Affronts mindestens durch gesetzliche Legitimierung Ihrer Ehe. Ihr Gatte ist bereit zu diesem Schritte, der für ihn lediglich eine bedeutungslose Form darstellt, Sie haben ein instinktives Gefühl davon, daß von Ihrer Seite der lieben Philistermoral mehr geopfert werden soll als eine Aeußerlichkeit und etwas in Ihnen sträubt sich gegen dieses Opfer. Lassen Sie sich sagen, daß der vielgeschmähte weibliche Instinkt mit großer Sicherheit wieder das Richtige getroffen hat, denn die legitime Ehe bedeutet für die Frau den gesetzlichen Verzicht auf ihre Rechtsexistenz, umschließt nicht allein die für eine selbständige Individualität unwürdige Aufgabe ihres Namens und ihres Selbstbestimmungsrechtes, sondern in den meisten Fällen völlige pekuniäre Abhängigkeit und in allen Fällen gänzliche Rechtlosigkeit an ihren Kindern.
Für eine Frau von Selbstachtung, welche die gesetzlichen Wirkungen der bürgerlichen Eheschließung kennt, ist es nach meiner Überzeugung unmöglich, eine legitime Heirat einzugehen: ihr Selbsterhaltungstrieb, die Achtung vor sich selbst und ihr Anspruch auf die Achtung ihres Mannes läßt ihr nur die Möglichkeit einer freien Ehe offen. […]
Sie sagen mir, geehrte Frau, und es ist durchweg die Ueberzeugung aller, welche mit Ihnen in gleicher Lage sind, daß Ihr Gatte nie einen Mißbrauch seiner gesetzlichen Bevorrechtung; „die er verachtet“, begehen wird. In einem Punkte jedoch ist er nicht einmal in der Lage, eine Wirkung der gesetzlichen Ehe auszuschalten, das ist Ihre Namensänderung. Man pflegt bei uns auf diesen Punkt gerichtete Proteste als ein eigensinniges Verweilen auf Aeußerlichkeiten zu verurteilen. Die Zumutung, den Namen, unter dem man zum Menschen herangewachsen ist, plötzlich abzulegen und gegen einen neuen zu vertauschen, so wie man ein abgenutztes Kleidungsstück wechselt, ist aber mehr als eine äußerliche. Sie müssen sie nur objektiv betrachten, um ihren richtigen Maßstab zu finden. Zu dem Gesichtspunkt reiner Sachlichkeit gelangen Sie sofort, wenn Sie einem Manne eine Namensänderung ansinnen als Konsequenz irgend eines Vorganges im Leben. […]
Werden Sie vor sich selbst den vollen Respekt behalten, wenn Sie sich freiwillig in eine derartige Rechtsstellung begeben? wird Ihre Ehe ihre unverletzte Würde bewahren, wenn einer der beiden Gatten nur durch die Nachsicht des anderen emporgehoben ist? Und wenn Sie sich mit diesen beiden Einwänden abfinden (obwohl ich es nicht hoffe), wollen Sie auch die völlige Rechtlosigkeit an Ihren Kindern auf sich nehmen, welche das deutsche Gesetz über die legitime Mutter verhängt? […]
Ist nicht diese Formulierung des Elternrechts ausschließlich zu Gunsten des Vaters, die Krönung der Konstruktion, welche die legitime Gattin zur willenlosen Sklavin des Mannes herabdrückt, denn mit der Gewalt über ihre Kinder hat er eine Geisel in Händen, die eine Mutter zu allem gefügig machen wird. Und wie schändlich gepeinigt werden diese armen Geiseln von tausend gewissenlosen Vätern, – die ja nach Ausspruch des Gesetzes selbst durch Bande der Verwandtschaft und Sympathie mit ihren Kindern nicht in Beziehung stehen, – nur um in ihnen die Mutter treffen. Kann bei Kenntnis dieser Rechtslage eine Frau, welche etwas auf sich hält, sich in eine so unwürdige Stellung zu ihren Kindern drängen lassen, wie sie sie durch Eingehung der bürgerlichen Ehe erhält?
Genug, – ich hoffe Sie überzeugt zu haben, daß wenn Sie Kraft und Rückrat in sich fühlen, eine Persönlichkeit zu sein, nicht eine Ziffer in der Bevölkerungsstatistik es Ihre Pflicht ist, den dornigen Weg fortzuwandern, den Sie bereits eingeschlagen haben. Ertragen Sie lieber jedes Martyrium, als das Aufgeben Ihrer Selbst in einer bürgerlichen Ehe, denn Sie bauen dadurch die Brücke der Zukunft. Glauben Sie nur, wenn einmal hundert Ehepaare gleich Ihnen gehandelt haben werden, Menschen von Bedeutung und Wert, denn nur unsere Besten sind vorläufig imstande, so zu handeln, dann werden auch für den Durchschnitt die Pforten zu einem sittlich möglichen Ehebunde auf gesetzlicher Grundlage eröffnet. Wenn hundert tüchtige deutsche Frauen offen erklärt haben werden, unsere Gesetze bieten meinem Manne und mir keine Möglichkeit in einer legitimen Ehe ein menschenwürdiges Verhältnis aufrecht zu erhalten, so werden diese Gesetze geändert werden. Tun Sie das Ihre, um diese Reform herbeizuführen.
Hochachtungsvoll
Anita Augspurg.
Irschenhausen, Oberbayern.
(Quelle: Augspurg, Anita (1905): Ein typischer Fall der Gegenwart : offener Brief. – In: Die Frauenbewegung : Revue für die Interessen der Frauen, Nr. 11, S. 81 – 82)