Programm der „Zeitschrift für Frauen-Stimmrecht“

Anita Augspurg, 1907

Fünf Jahre der propagandistischen und organisatorischen Arbeit hat die Stimmrechtsbeweguug in Deutschland durchlaufen, und heute kann sie den ersten Meilenstein ihres Schaffens errichten, ein Organ, das ausschließlich ihren Interessen dient, das den Nachrichtenaustausch vom Auslande vermittelt, das Streben und Fortschreiten im Inlande begleitet und anregt und ein engeres Band um die Mitglieder der sich immer weiter ausdehnenden Organisation des Deutschen Verbandes für Frauenstimmrecht schlingt.

Ein erfreuliches Zeichen dafür, daß unsere Bewegung nicht nur in die Breite, sondern auch in die Tiefe gewachsen ist, daß sie wirklich Wurzel gefaßt hat, als ein Bestandteil des öffentlichen Lebens, glauben wir darin gefunden zu haben, daß das Bedürfnis nach einer Fachzeitschrift für Frauenstimmrecht nicht nur von den Führerinnen der Bewegung empfunden, sondern auch vielfach von außenstehenden Politikern und Parlamentariern geäußert worden ist, welche die Notwendigkeit fühlen, sich über diese mächtige internationale Zeitströmung sicher und gründlich orientieren zu müssen.

In der Tat ist das Material, über das Frauenstimmrecht heute so umfangreich und die Bewegung in allen Ländern so lebhaft, daß, um auf dem Laufenden zu bleiben, ein besonderes Blatt seiner Sammlung und Sichtung gewidmet sein muß. Daß dasselbe auch die Grenzgebiete mit einbeziehen wird, versteht sich von selbst, die Beteiligung der Frauen am öffentlichen Leben überhaupt, ihre fortschreitende Verwendung im öffentlichen Dienst, in Vertrauens- und Verwaltungsämtern, ihre Stellungnahme zu politischen Tagesereignissen.

Das erste Erscheinen der Zeitschrift – das leider durch äußere Umstände um einen halben Monat verspätet ist, in der Folge aber am ersten jedes Monates erfolgen wird – fällt zusammen mit einer politisch erregten Zeit, mit der Vorbereitung der Wahlen zu einem neuen Reichstage. Auch dieses Zusammentreffen gibt Anlaß zu befriedigenden Betrachtungen und zeigt, daß die bisherige Arbeit des Deutschen Vereines und jetzigen Verbandes für Frauenstimmrecht nicht vergeblich gewesen ist. Welcher Unterschied in der Auffassung der Frauen von ihrer Mitbeteiligung an diesem politischen Ereignis! Früher ungläubiges Kopfschütteln über die Zumutung, daß auch ohne Wahlberechtigung den Frauen zustände und obläge, sich für Reich und Parlament, Gesetzgebung und Wahlen zu interessieren, daß es auch ihnen möglich sei, Einfluß auszuüben und Arbeit zu leisten und daß ohne solchen Beweis ihrer Befähigung und ihrer Arbeitsfreudigkeit kein sicherer Rechtstitel für ihre Forderung der politischen Rechte zu behaupten sei. Vor drei Jahren äußerste Unsicherheit und Schwerfälligkeit, als der Verband für Frauenstimmrecht das Kommando zur Beteiligung an den Reichstagswahlen ausgab und mit allen Mitteln sanfter Gewalt und dringender Ueberredung die widerwilligen Mitglieder zur Uebernahme ihrer Pflichten zu zwingen suchte. Und heute, kaum nach Bekanntwerden der Auflösung des Reichstages, ein Schwirren und Regen von allen Seiten: wo können wir arbeiten? was gibt es zu tun? eine Anteilnahme an dem Geschehenen, eine Stellungnahme zum Kommenden.

Das beste Zeugnis für das geschärfte politische Gewissen der Frauen ist darin zu erblicken, daß dieses sich zeigende Interesse so stark war, obwohl es nur auf ein verhältnismäßig unbedeutendes Ereignis Bezug hatte. Die Regierung liefert ein kleines Scharmützel gegen die regierende Partei, eine Brouillage, die ausgehen wird, wie das Hornberger Schießen. Das Zentrum mit seiner strengen Disziplin, seinen unerschöpflichen Geldmitteln, seiner unheilvollen Macht über die Gemüter und bei der rücksichtslosen Ausnutzung der ihm zur Verfügung stehenden moralischen Zwangsmittel wird geringe Einbuße bei den Wahlen leiden, es hat die nötigen Reserven, um einem etwaigen schärferen Ansturm als früher selbst von Regierungstruppen trotzen zu können, die Sozialdemokratie wird wieder die Ernte einheimsen, die ihm aus den Saaten volksfeindlicher Regierungstaktik mühelos erwächst und die Liberalen, die durch ihre Waffenbrüderschaft mit dem breiigen Nationalliberalismus noch mehr die Möglichkeit zu radikalem Liberalismus eingebüßt hat, wird die Kosten zahlen. Die Regierung, die von ihrem wankenden Prestige noch mehr verlieren wird, muß schließlich doch wieder mit der herrschenden Partei der Schwarzen Verständigung suchen, da sie dem roten Links soeben aufs neue unversöhnliche Fehde geschworen hat. Daß sich der bürgerlichen Frauen ein gewisses Mißvergnügen an diesen Zuständen bemächtigt, daß sie nach dem Impuls zur Tätigkeit jetzt abwägend vergleichen, für wen? und für was? ist wiederum ein Zeichen ihres gesunden politischen Instinktes. Wer nicht mehr dem glücklichen, bergeversetzenden Gottesglauben an die allein seligmachende Doktrin des Sozialismus oder der Kirche unterworfen ist und nicht mehr mit blindem Gehorsam der Führung folgt, hat wahrhaftig einen schweren Stand bei der Entscheidung seiner Stellungnahme im vorliegenden Wahlkampf. Man weiß nur gegen was man kämpfen möchte, nämlich gegen Parteiegoismus, Interessenpolitik, Volksverdummung, Rechtsbruch, Charakterlosigkeit und Unmoral im weitesten Sinne, man findet aber bei keiner Partei die Bundesgenossenschaft, die mit uns Schulter an Schulter den rücksichtslosen Kampf gegen das Dunkel, für Licht, Freiheit und Fortschritt aufnimmt, sondern überall Kompromisse, halbe Schwenkungen, Konzessionen und Paktierungen. Nichts als offene und versteckte Sünden wider den heiligen Geist.

Diese sollen und wollen die Frauen nicht mitmachen: es ist das die strenge und tiefe Moral, die dem Eintritt der Frauen in die Politik in allen Ländern innegewohnt hat. Sie keimt auch bei uns instinktiv gegen die herrschende Tagespolitik aus kräftigen, lebensfähigen Wurzeln hervor, und ihrer Pflege und Wachstumsförderung soll dieses Blatt dienen.

(Quelle: Augspurg, Anita (1907): Programm. – In: Zeitschrift für Frauen-Stimmrecht ; [Beilage zu: Die Frauenbewegung], Nr. 1, S. 1 – 2)

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