Das Buch von der Stadt der Frauen

Christine de Pizan, 1405

HIER BEGINNT DAS BUCH VON DER STADT DER FRAUEN, DESSEN ERSTES KAPITEL ERZÄHLT, WESHALB UND AUS WELCHEM ANTRIEB DIESES BUCH VERFASST WURDE.

I. Als ich eines Tages meiner Gewohnheit gemäß, umgeben von zahlreichen Büchern aus verschiedenen Sachgebieten in meiner Klause saß und mich dem Studium der Schriften widmete, war mein Verstand es zu jener Stunde einigermaßen leid, die bedeutenden Lehrsätze verschiedener Autoren, mit denen ich mich seit längerem auseinandersetzte, zu durchdenken. Ich blickte also von meinem Buch auf und beschloss, mich stattdessen bei der Lektüre heiterer Dichtung zu zerstreuen. Auf der Suche nach irgendeinem Bändchen fiel mir ganz unerwartet ein merkwürdiges Buch in die Hand. Ich öffnete es, entnahm dem Titelblatt, dass es sich Matheolus nannte und lächelte, denn bislang hatte ich es zwar noch nie einsehen können, aber schon oft gehört, es verbreite, im Gegensatz zu anderen Büchern, Gutes über die Frauen.

Ich fing also an, darin zu lesen und kam auch ein Stück voran. Da mir aber sein Inhalt für all jene, die an Verleumdung wenig Gefallen finden, nicht sonderlich erheiternd schien und es außerdem anstößige Ausdrücke und Themen enthielt, blätterte ich nur ein wenig darin herum und legte es, nach einem Blick auf den Schluss, beiseite, um mich anspruchsvolleren und nützlicheren Studien zuzuwenden. Aber so unbedeutend dieses Buch im Grunde auch war, es lenkte meine Gedanken doch in eine neue Richtung: In meinem Inneren war ich verstört und fragte mich, welches der Grund, die Ursache dafür sein könnte, dass so viele und so verschiedene Männer, ganz gleich welchen Bildungsgrades, dazu neigten und immer noch neigen, in ihren Reden, Traktaten und Schriften derartig viele teuflische Scheußlichkeiten über Frauen und deren Lebensumstände zu verbreiten. Und zwar nicht nur jener Matheolus, der in literarischer Hinsicht völlig unbedeutend ist und Lügengewäsch verbreitet, nein: allerorts, in allen möglichen Abhandlungen scheinen Philosophen, Dichter, alle Redner (ihre Auflistung würde zu viel Raum beanspruchen) wie aus einem einzigen Munde zu sprechen und alle zu dem gleichen Ergebnis zu kommen, dass nämlich Frauen in ihrem Verhalten und ihrer Lebensweise zu allen möglichen Formen des Lasters neigen.

Aber obwohl ich äußerst gründlich beobachtete und prüfte, fand ich keinerlei Anhaltspunkte für solche abschätzigen Urteile über meine Geschlechtsgenossinnen und die weiblichen Stände. Dennoch bezog ich Position gegen die Frauen und meinte, es sei völlig unvorstellbar, dass so bedeutende Männer – berühmte Gelehrte von beträchtlichem intellektuellen Format, scharfsinnig in jeder Hinsicht, wie jene es zu sein schienen – dass diese Männer Lügen über die Frauen verbreitet hätten; und dies an so vielen Stellen, dass ich kaum einmal einen Band moralischen Schrifttums fand (ganz gleich, aus welcher Feder), ohne bereits nach kürzester Zeit auf frauenfeindliche Kapitel oder Aussprüche zu stoßen! Schon daraus schloss ich, dies müsse stimmen – auch wenn ich selbst in meiner Einfalt und Unwissenheit unfähig war, meine eigenen schlimmen Schwächen und die der anderen Frauen zu erkennen. Und so verließ ich mich mehr auf fremde Urteile als auf mein eigenes Gefühl und Wissen. In diesen Gedanken steigerte ich mich dermaßen hinein, dass ich in einem Zustand der Lethargie verharrte.

Zu guter Letzt kam ich sogar zu dem Schluss, Gott habe mit der Frau ein niederträchtiges Wesen erschaffen. Allerdings konnte ich es mir nicht erklären, wie der so überaus würdige Schöpfer sich zu einem solch abscheulichen Werk hatte herablassen können: zur Erschaffung eines Gefäßes, einer Brutstätte und eines Hortes aller Schlechtigkeiten und Laster, wie jene Männer behaupten. In solchen Gedanken befangen, erfüllten mich gewaltiger Überdruss und große Verzagtheit, denn ich verachtete mich selbst und mit mir das gesamte weibliche Geschlecht, als wäre es ein Irrtum der Natur.

Während ich mich mit so traurigen Gedanken herumquälte, sah ich plötzlich einen Lichtstrahl und erblickte drei gekrönte Frauen von sehr edlem Aussehen. Da redete die erste mich lächelnd folgendermaßen an:

„Wie geht das, schöne Tochter? Wo hast du all deinen Scharfsinn gelassen? Es hat den Anschein, dass für dich jede Äußerung eines Philosophen den Status eines Glaubensgrundsatzes hat und du es für ausgeschlossen hältst, dass auch sie irren könnten. Was die Dichter angeht, von denen du sprichst: Weißt du denn nicht, dass sie schon oft nichts anderes als Ammenmärchen verbreitet haben? Je stärker die Frauen den Männern an Körperkraft unterlegen, je schwächer und weniger geschickt sie zu gewissen Dingen sind, desto größere Klugheit und desto mehr Scharfsinn entfalten sie überall dort, wo sie sich wirklich ins Zeug legen. Weißt du denn, weshalb Frauen weniger wissen?“

„Nein, edle Frau – sagt es mir bitte!“

„Ganz offensichtlich ist es darauf zurückzuführen, dass Frauen sich nicht mit so vielen verschiedenen Dingen beschäftigen können, sondern sich in ihren Häusern aufhalten und sich damit begnügen, ihren Haushalt zu versehen. Nichts aber schult vernunftbegabte Wesen so sehr wie die Praxis, die konkrete Erfahrung auf zahlreichen und verschiedenartigen Gebieten.“ „Edle Herrin, wenn sie also über einen aufnähme- und lernfähigen Verstand verfügen: Weshalb lernen sie dann nicht mehr?“ „Tochter, das hängt mit der Struktur der Gesellschaft zusammen, die es nicht erfordert, dass Frauen sich um das kümmern, was den Männern aufgetragen wurde. Und so schließt man vom bloßen Augenschein, von der Beobachtung darauf, Frauen wüssten generell weniger als Männer und verfügten über eine geringere Intelligenz. Und dennoch kann es nicht den geringsten Zweifel geben: Die Natur hat sie mit ebenso- vielen körperlichen und geistigen Gaben ausgestattet, wie die weisesten und erfahrensten Männer. Dies alles ist jedoch mit mangelnder Bildung zu erklären. Es verhält sich doch so, dass die Männer über die Frauen und keineswegs die Frauen über die Männer Herrschaft ausüben; überdies würden die Männer den Frauen niemals Macht über sich selbst zugestehen.“

(Textauszug aus: Pizan, Christine de (1405): Das Buch von der Stadt der Frauen. )

Weiter: Kapitel II

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