Christine de Pizan, 1405
HIER ERZÄHLT CHRISTINE, WIE IHR DREI VORNEHME FRAUEN ERSCHEINEN, WIE IHRE ANFÜHRERIN SIE ANREDET UND SIE ÜBER IHREN KUMMER HINWEGTRÖSTET.
II. Während ich mich mit so traurigen Gedanken herumquälte, ich den Kopf gesenkt hielt wie eine, die sich schämt, mir die Tränen in den Augen standen und ich den Kopf in meiner Hand barg, den Arm auf die Stuhllehne gestützt, sah ich plötzlich einen Lichtstrahl auf meinen Schoß fallen, als wenn die Sonne schiene. Und ich, die ich mich an einem dunklen Ort aufhielt, den zu dieser Stunde die Sonne gar nicht erhellen konnte, schreckte auf, gleich einer Person, die aus dem Schlaf hochfährt. Ich hob den Kopf, um die Lichtquelle zu suchen, und erblickte drei gekrönte Frauen von sehr edlem Aussehen, die leibhaftig vor mir standen. Das von ihren hellen Gesichtern ausstrahlende Licht erleuchtete mich und alles um mich herum. Man kann sich meine Überraschung vorstellen, denn alle Türen waren fest verriegelt, und trotzdem war es ihnen gelungen einzudringen. In der Befürchtung, es handele sich um eine mir als Versuchung auferlegte Geistererscheinung, schlug ich auf meiner Stirn das Zeichen des Kreuzes und war von großer Angst erfüllt.
Da redete die erste der drei Frauen mich lächelnd folgendermaßen an: „Teure Tochter, erschrick nicht, denn wir sind nicht gekommen, um dir zu schaden oder dir Kummer zu bereiten, sondern um dich zu trösten und dich aus deiner Unwissenheit zu erlösen, weil uns deine Verwirrung dauert. Sie verdunkelt so sehr deinen Verstand, daß du das, was du mit Sicherheit weißt, abstreitest und das glaubst, was du selbst nicht aus eigener Anschauung oder eigener Erfahrung, sondern lediglich aus den zahlreichen Meinungsäußerungen fremder Menschen weißt. Du gleichst dem Narren aus dem Schwank, dem man, während er in der Mühle schlief, Frauenkleider anzog und der beim Erwachen, weil seine Gegner ihm weismachten, er sei eine Frau, diesen Lügen mehr Glauben schenkte als der Gewißheit seines Seins. Wie geht das an, schöne Tochter? Wo hast du all deinen Scharfsinn gelassen? Hast du denn vergessen, daß feines Gold in der Feuersglut seine Beschaffenheit beweist, die sich nicht verändert und sich höchstens noch verfeinert, je mehr es auf unterschiedliche Weise gehämmert und bearbeitet wird? Weißt du denn nicht, daß die höchsten Dinge zugleich die umstrittensten sind? Und wenn du dein Augenmerk auf die allerhöchste Dinge, die Ideen, das heißt: die himmlischen Dinge richtest, so solltest du auch einmal erwägen, ob nicht die größten Philosophen aller Zeiten, die du gegen dein eigenes Geschlecht einsetzt, vielleicht falsche Schlüsse gezogen haben; und ob nicht der eine auf den anderen antwortet und sie sich wiederholen: genau das hast du ja selbst im Buch von der Metaphysik beobachtet, wo Aristoteles fremde Meinungen wiedergibt und sowohl Platon als auch andere wiederholt. Und bedenke ebenfalls, daß der heilige Augustin und andere Kirchenväter sogar Aristoteles korrigiert haben und damit den Fürsten der Philosophie, der in der Natur- und Moralphilosophie zu höchsten Erkenntnissen gelangt war.
Es hat außerdem den Anschein, daß für dich jede Äußerung eines Philosophen den Status eines Glaubensgrundsatzes hat und du es für ausgeschlossen hältst, daß auch sie irren könnten. Was die Dichter angeht, von denen du sprichst: weißt du denn nicht, daß sie schon oft nichts anderes als Ammenmärchen verbreitet haben und zuweilen das Gegenteil von dem meinen, was sie in ihren Schriften kundtun? Aber man bekommt sie mit Hilfe einer rhetorischen Figur zu fassen, die »Antiphrase« heißt; wie du weißt, bezeichnet sie den Sachverhalt, daß man jemanden als schlecht bezeichnet, in Wirklichkeit aber meint, er sei gut, und umgekehrt. Deshalb rate ich dir, ihre Werke in deinem Sinne zu lesen und die frauenfeindlichen Passagen, in welcher Absicht auch immer sie verfaßt sein mögen, so zu verstehen. Vielleicht meinte es ja auch jener Autor, der in seinem Buch als Matheolus auftritt, gerade so; denn es gibt viele Dinge, die, wortwörtlich verstanden, pure Ketzerei wären. Ferner: die Erfahrung hat bewiesen, daß die heftige Kritik am heiligen und gottgewollten Stand der Ehe, so wie sie sich vor allem im Rosenroman, aber auch anderenorts findet, weil dessen Autor großen Einfluß hatte, völlig unberechtigt ist und die Beschuldigung der Frauen jeglicher Grundlage entbehrt. Denn wo hat es jemals einen Ehemann gegeben, der sich dermaßen von seiner Frau beherrschen ließ und es duldete, sich von ihr so viele abscheuliche Beschimpfungen an den Kopf werfen zu lassen, wie jene es den Frauen nachsagen? Was immer du zu diesem Thema gelesen hast, aber nie selbst erlebt hast: ich halte es für plumpe Lügen. Teure Freundin, deshalb sage ich dir zu guter Letzt, daß allein die Einfalt die Ursache deiner gegenwärtigen Auffassung ist. Darum werde wieder du selbst, bediene dich wieder deines Verstandes und kümmere dich nicht weiter um solche Torheiten! Denn eines mußt du wissen: alle Bosheiten, die allerorts über die Frauen verbreitet werden, fallen letzten Endes auf die Verleumder und nicht auf die Frauen zurück.“
(Textauszug aus: Pizan, Christine de (1405): Das Buch von der Stadt der Frauen. – Berlin : Orlanda-Frauenverl., 1986, S. 38 – 40)
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