Gerlinde Naumann, 1991
Als Pfarrerstochter in Freyenstein in der Ostprignitz geboren, besuchte sie nach Beendigung der Dorfschule die höhere Töchterschule, in der sie eine Bildung und Erziehung im Sinne des bürgerlichen Frauenleitbildes des Wilhelminischen Deutschlands erhielt. Als »Haustochter« empfand sie immer deutlicher den Widerspruch zwischen der auch ihr zugedachten untergeordneten Stellung der Frau in der Gesellschaft und ihrem Wunsch nach Bildung und Selbstbefreiung.
Nach dem Tode ihres zweijährigen Sohnes (er starb an Diphtherie) und ihres Mannes im Jahre 1866 faßte sie den Entschluß, Lehrerin zu werden. Bei den vorherrschenden unzulänglichen Bildungsmöglichkeiten und unter der Belastung gesellschaftlicher Vorurteile boten sich den bürgerlichen Frauen nur wenige »standesgemäße« Erwerbsgebiete. Sie erschöpften sich in den Berufen der Krankenpflegerin, der Lehrerin, Erzieherin und Gesellschafterin sowie einigen künstlerischen Zweigen.
Mit Hilfe des ihr in Berlin freundlich gesonnenen Schulrates Bormann gelang es Minna, sich durch Privatstunden auf das Lehrerinnenexamen vorzubereiten, das sie Ostern 1867 erfolgreich ablegen konnte. Das Lehrerinnenseminar war vor der Öffnung der Universitäten die einzige Möglichkeit, eine über die höhere Töchterschule hinausgehende Ausbildung zu erlangen. Zur Beschaffung der dafür notwendigen finanziellen Mittel gab sie Kindern Nachhilfeunterricht.
Im Jahre 1868 faßte die junge Witwe den Entschluß, nach Paris zu gehen und dort als Deutschlehrerin und Erzieherin zu wirken. Sie wollte ihrem Leben einen neuen Inhalt geben und außerdem ihre französischen Sprachkenntnisse vervollkommnen. In Paris nahm sie die Stellung einer »Institutrice« ein, unterrichtete zwei Haustöchter in allen Fächern in französischer Sprache, um sie zum sogenannten Cours vorzubereiten, der den aristokratischen Kreisen zur Ausbildung ihrer Töchter diente.
Rückblickend auf die Zeit in Paris, schrieb sie 1909: „Die Einblicke, die ich in das Leben der Reichen zu tun in der Lage war – und zwar nahm ich zum erstenmal teil an dem Glanz des Daseins der oberen Zehntausend, – haben mir deutlich bewiesen, daß Reichtum selten Glück bringt und noch seltener innere Zufriedenheit, wohl erleichtert er das äußere Leben, aber es verarmt oft das innere.“
Auch der Unterricht in fremder Sprache stellte hohe Anforderungen an die Willenskraft der Lehrerin. Sie nutzte die Nächte zur Vorbereitung; da saß sie am Schreibtisch, die Füße in kaltes Wasser gesteckt, um nicht vor Ermüdung über den Büchern einzuschlafen. Erst nach und nach besserte sich ihre Stellung und brachte ihr oft Liebe, Verehrung und Bewunderung ein.
Nach ihrem Pariser Aufenthalt lehrte Minna Cauer in Hamm in Westfalen an einer Mädchenschule. Hier lernte sie Eduard Cauer kennen, der dort als Gymnasialdirektor tätig war.
Die zwölf Ehejahre, die sie mit ihm verbrachte, gehörten zu den glücklichsten und reichsten Abschnitten ihres Lebens, in denen sie zu vielseitigem Denken gezwungen wurde. Finanziell abgesichert konnte Minna Cauer neben der Erfüllung ihrer Mutter- und Hausfrauenpflichten ihren Lieblingsbeschäftigungen nachgehen; sie besuchte Theatervorstellungen, Kunstausstellungen, war Gast in den verschiedenen Bibliotheken Berlins.
Eduard Cauer veranlaßte sie auch, sich geschichtlichen Studien zu widmen, ohne zu ahnen, daß sie eine Vorbereitung auf das spätere Lebenswerk darstellten. Minna Cauer wurde durch ihren Mann nicht nur mit Frauenbildungsproblemen vertraut gemacht, sondern sie kam auch in Berlin in Kontakt zu führenden liberalen Politikern wie Ludwig Bamberger, Max von Forckenbeck – Präsident des Reichstages -, Theodor Barth, Karl Schrader und Vertretern der bürgerlichen Frauenbewegung wie Ulrike Henschke und Henriette Schrader-Breymann.
Einen nachhhaltigen Einfluß auf den geistigen Werdegang Minna Cauers übten die vom »Schraderkreis« initiierten »Pädagogischen Abende« aus, die in den 70er und 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts im Berliner Geistesleben eine große Rolle spielten. Diese hatten „Fragen der Erziehung im weitesten Sinne der Volksbildungsbestrebungen“ aller Art sowie politische Tagesfragen zum Inhalt.
Schrader gewährte Minna Cauer bei den in den Jahren 1888/89 gegründeten Vereinen »Frauenwohl« und »Kaufmännischer Hilfsverein für weibliche Angestellte« nicht nur moralische, sondern vor allem auch materielle Unterstützung.
Auf der Suche nach neuen Lebensinhalten nach dem Tode Eduard Cauers im Jahre 1881 nahm sie ihre Tätigkeit als Lehrerin zeitweise wieder auf und gab zahlreiche Privatstunden, hauptsächlich in Sprachen und Geschichte. Daneben beschäftigte sie sich als Autodidaktin intensiv mit Literatur, Philosophie und Geschichte. Die Frucht dieser Studien waren Aufsätze historischen Inhalts, die sie zunächst in der »Vossischen Zeitung« anonym veröffentlichen ließ und später in ihrem 1898 erschienen Werk »Die Frau im 19. Jahrhundert« verarbeitete.
Betroffen über ihre Lage als rechtlose Witwe schrieb sie: „Jedoch bei diesem Forschen kam ich immer mehr zu der Überzeugung, wie niedrig die Stellung der Frau war, wie sklavenhaft, wie rechtlos, wie unwürdig…“
Zudem ließ sie der Lehrerinnenberuf – sie übernahm kurzfristig die Leitung des Victoria-Lyzeums nach dem Tode von Miss Archer – die rechtlose Lage der Frau gegenüber den männlichen Berufskollegen deutlich empfinden. Die eingeschränkte Ausbildung von Frauen an besonderen Lehrerinnenseminaren diente der Schulbehörde in Deutschland zur Rechtfertigung der schlechten Bezahlung und der diskriminierenden Stellenvergabe. Lehrerinnen durften in der Regel nur an Privatschulen oder in der Unterstufe öffentlicher höherer Mädchenschulen unterrichten. Amtlich vorgeschrieben betrug das Gehalt der Volksschullehrerin etwa 77% des Lehrergehalts, faktisch lag es oft darunter.
Mit Cauers Lehrtätigkeit und ersten publizistischen Versuchen, mit denen sie sich so recht und schlecht durchs Leben schlug, waren Voraussetzungen gegeben, den Weg in das öffentliche Leben zu gehen, der sie zunächst in die Akademische Vereinigung führte und mit der Gründung des Vereins »Frauenwohl« im Jahre 1888 einen ersten Höhepunkt fand.
Dieser Verein, dessen Bedeutung für die Entwicklung der Frauenbewegung um die Jahrhundertwende nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, – er war der erste bürgerliche Frauenverein, der der Frau auch politische Rechte zuwies und forderte – entwickelte sich rasch zum Kristallisationspunkt und Schulungszentrum der fortschrittlichen Frauenbewegung und versuchte, dieser Ziel und Richtung zu geben. Wollte er seiner Zielstellung als Agitations- und Propagandaverein gerecht werden, mußte er sich schnell ein geeignetes Kampforgan schaffen. Auf Vorschlag führender Mitglieder des Vereins übernahm Minna Cauer die Redaktion der Frauenzeitschrift »Die Frauenbewegung«, die sich im Verlaufe ihrer politischen Tätigkeit zum Organisationszentrum und »Sprachrohr« des linken Flügels der bürgerlichen Frauenbewegung entwickelte. »Die Frauenbewegung« blieb die größte Leistung Cauers, doch fand sie daneben noch Zeit für die Vereinstätigkeit. Der Name der Zeitschrift war geschickt gewählt, ließ er doch im Leser direkt das Gefühl von Unruhe und Veränderung wach werden, zugleich eine Dynamik gleicher Gesinnungen, Überzeugungen und Willensrichtungen. Mit der Bezeichnung wollte Cauer zugleich darauf hinweisen, daß etwas Neues im Aufbruch war, starke Kräfte sich regten, vorwärts drängten, sich ausbreiteten. Die Gründung der Zeitschrift war ermöglicht worden, weil eine Vielzahl von Frauenvereinen das Blatt als Publikationsorgan annahmen und die Lieferung an alle Mitglieder obligatorisch machten. So nahmen verschiedene Rechtsschutzvereine und Berufsverbände die Zeitschrift als Publikationsorgan an, u.a. der von Minna Cauer gegründete »Hilfsverein für weibliche Angestellte«, der im Jahre 1909 25.238 Mitglieder zählte und die größte Frauenberufsorganisation jener Zeit war, ebenfalls die von Cauer mit ins Leben gerufenen »Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit«, die nach dem Vorbild der amerikanischen Schools of Philanthropy die Bahnbrecher der sozialen Frauenschulen in Deutschland wurden, der »Verband Fortschrittlicher Frauenvereine«, der im Jahre 1908 1.995 Mitglieder zählte, der »Deutsche Verband für Frauenstimmrecht« mit seinen 1909 2458 zählenden Mitgliedern, der »Preußische Landesverband für Frauenstimrnrecht« mit 3446 Mitgliedern sowie verschiedene Zweigvereine der »Internationalen Abolitionistischen Föderation«.
Geht man vom sogenannten Zwangsabonnement der verschiedenen Vereine aus, so könnte die Auflagenhöhe der »Frauenbewegung« etwa 50.000 Exemplare betragen. Faktisch dürfte sie aber darüber gelegen haben, da Minna Cauer mit ihren Inhalten die unterschiedlichsten Fraueninteressen ansprach. Sie erschien mit Unterbrechung der Kriegszeit (monatlich) zweimal im Monat und kostete vierteljährlich 1 Mark. Dieser Bezugspreis war außerordentlich billig.
Da Minna Cauer als Herausgeberin daran gelegen war, dem Blatt einen freiheitlich-demokratischen Charakter zu bewahren, nahm sie das volle pekuinäre Risiko auf sich. Durch Auseinandersetzungen in den eigenen Reihen wurde das Zwangsabonnement für verschiedene Vereine im Jahre 1907 aufgehoben. Mit dieser Entscheidung mußte die »Frauenbewegung« einen empfindlichen Rückschlag hinnehmen. Cauers Sekretärin und Mitstreiterin Else Lüders bemerkte dazu folgendes: „Jeder Schlag, der gegen Ihr Blatt gefuhrt wurde, traf Minna Cauer ganz besonders hart. … Die Vereine erhielten das Blatt zwar zu einem lächerlich niedrigen Vorzugspreis, trotzdem sicherte die Masse des Absatzes die Existenz des Blattes.“
Wie bei der Vereinstätigkeit war sie auch bei der Herausgabe ihrer Zeitschrift auf Spenden und Sympathisanten angewiesen. Beim Durchblättern der »Frauenbewegung«, die Else Lüders als „das Beste, Tiefste und Nachhaltigste“ des Wirkens von Minna Cauer bezeichnete, fällt auf, daß Inserate, Stellengesuche und Kleinanzeigen ein unentbehrliches Mittel für die 25 Jahrgänge der Zeitschrift darstellen. Mit ihrem Konzept, das darauf abgestellt war, politische Meinungsbildung mit Unterhaltung, Belehrung und Aufklärung zu verbinden, ist es Cauer gelungen, den Erfolg aller bis dahin bestehenden Frauenzeitschriften im bürgerlichen Lager in den Schatten zu stellen.
Über die Bedeutsamkeit und Wirksamkeit Cauers schrieb eine Freundin und Kampfgefährtin – Helene Stöcker – folgendes: „Das besondere Verdienst von Minna Cauer war es, schon damals die Notwendigkeit zu erkennen, das gesamte Gebiet des menschlichen Lebens für die Frauenbefreiung in Betracht zu ziehen. Nicht nur die Frage: Mädchenschule oder Gymnasium schien ihr wichtig, auch die Erörterung der Probleme der Prostitution, der Interessen der Arbeiterinnen, das Frauenstimmrecht sowie eine lebhafte Betätigung in der Öffentlichkeit durch die Presse und Versammlungen wurden von ihr und ihrem Kreis als ein Erfordernis der Zeit betrachtet.“
Unter den Mitarbeiterinnen konnte Cauer auf eine ganze Reihe bauen, die in den von ihr geleiteten Frauenvereinen arbeiteten, wie z.B. Lida Gustava Heymann, Helene Stöcker, Anita Augspurg, Else Lüders, Auguste Kirchhoff. Da Minna Cauer oft in finanziellen Nöten war, schrieb sie die meisten Beiträge selbst. Daneben nahm sie immer wieder Vortragsreisen auf sich. Else Lüders bemerkte dazu: „Wo ein Provinzialverein sie bat, da folgte sie diesem Ruf … Kaum eine einzige Frauenrechtlerin in Deutschland kann ihr eine gleiche intensive Propagandatätigkeit an die Seite stellen. Diese Wander-Vortragstätigkeit, die den anstrengensten und schwersten Teil jeder Agitationsarbeit bildet, übernahm sie als hohe Sechzigerin; diese aufreibende Arbeit im Dienste einer großen Idee lud sie auf sich bei einer durchaus nicht starken Gesundheit. Sie wirkt auf diesen Reisen oft bis zum Zusammenbruch vor Erschöpfung, und nur ihre kolossale Willenskraft hält sie aufrecht.“
Der demokratische Zug ihrer Zeitschrift und ihrer Arbeit, der sich auch mit der Forderung verband, die Frau als einen politischen Faktor innerhalb des bestehenden gesellschaftlichen Systems zu sehen, war vielen ein Dorn im Auge. Die Behörden des preußisch-deutschen Kaiserreichs, kirchliche Kreise und selbst »gemäßigte« Kräfte in den eigenen Reihen sparten nicht an Beschimpfungen, Beleidigungen und Drohungen.
Trotz vieler Konflikte und Schwierigkeiten, auch finanzieller Art – der Verlag war nur ein Kommissionsverlag – hielt Minna Cauer am freiheitlich-demokratischen Charakter ihres Blattes, das auch für Einzelabonnenten bestimmt war, fest: „Ich arbeite weder für die noch nicht reife Frau, noch um Männern zu gefallen, auch nicht um die öffentliche Meinung zu schonen. Ich arbeite für eine Idee … im Namen der Gerechtigkeit und Wahrheit.“ Diesem Grundsatz ist Minna Cauer bis zu ihrem Tode im Jahre 1922 treu geblieben.
Cauers 150 Geburtstag am 1. November 1991 sollte Anlaß sein, aus ihrem Lebenswerk Anregungsimpulse herauszuschälen und sie dem Zeitgeist unserer Gegenwart entsprechend »neu« als Aufgabe zu formulieren. Ihr Werk enthält für anzustrebende Veränderungen hinsichtlich der Stellung der Frau in unserer Gesellschaft genügend »Treibstoff«, im besten Sinne Anregung.
(Quelle: Naumann, Gerlinde (1991): „Ich arbeite für eine Idee…“ : Minna Cauer und die Zeitschrift „Die Frauenbewegung“. – In: Ariadne, Nr. 19, S. 42 – 45)