Das Antlitz des Friedens

Minna Cauer, 1919

Wir haben es uns anders, ganz anders vorgestellt. Nach vier Jahren furchtbarer Erlebnisse, nach Ertragen, Dulden und schwerster Sorgen träumten wir trotz allem von einem Frieden, als holder Knabe mit einer Friedenspalme in der Hand, aus dessen strahlendem Antlitz der gequälten Menschheit die Worte entgegenleuchten: „Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!“

Wahrlich, wenn überhaupt noch ein Beweis gegen den Krieg zu erbringen war, so wird es jetzt in zehnfacher Weise auch wohl dem größten Kriegsenthusiasten, den Anbetern der Gewalt, den Vertretern der Weltherrschaftsidee, den engherzigen Patrioten klar gemacht, daß die Welt durch ihn verelendet, durch ihn in den Abgrund gezogen wird, durch ihn alle Werte von Kultur und geistigem, sowie ethischem Fortschritt verloren gehen. Worte wie Gerechtigkeit, Recht, Freiheit müssen allen denjenigen wie Hohn klingen, die die Folgen dieses Krieges durchschauen, falls sie an den Inhalt dieser Worte noch glauben konnten, denn der Krieg, so hieß es auf Feindesseite, würde nur geführt, um diese heiligsten Ideen der Menschheit durchzusezten, weil ein Land und ein Volk, das deutsche, fern von diesen Grundsätzen handele, sie verletze und ihnen entgegenstände.

Dann kam der fürchterliche Zusammenbruch! Walther Rathenau hat in der Zukunft (Nr. 11 und 12 vom 21. Dezember) ein ergreifendes Schreiben an „Alle, die der Haß nicht blendet“ gerichtet. Der Artikel war für die Blätter des neutralen Auslandes bestimmt und ist auch wohl dort veröffentlicht. Aber diese Worte sollten, meines Erachtens, nicht nur für die Neutralen gelten, sondern überhaupt sich an alle wenden, und in den Gemütern, die der Haß nicht blendet, ein Echo finden, wenn auch ein tiefschmerzliches.

„Das deutsche Volk ist schuldlos““ schreibt Walther Rathenau. „Schuldlos hat es Unrecht getan. Schuldlos hat es aus alter, kindlicher Abhängigkeit seinem Herrn und Machthabern gedient. Es wußte nicht, daß diese Herren und Machthaber, äußerlich unveränderlich, sich innerlich gewandelt hatten. Es wußte nichts von der Selbstverantwortung der Völker…. Es duldete den Militarismus und Feudalismus, es ließ sich leiten und organisieren. Es ließ sich töten und tötete, wenn das befohlen wurde. Es glaubte, was seine angeborenen Führer ihm sagten. Schuldos hat es das Unrecht gegangen: zu glauben. Unser Unrecht wird schwer auf uns lasten. Unsere Schuldlosigkeit werden die Mächte erkennen, die in die Herzen blicken.“

Nein, dieses Erkennen wird nicht formen, nur dann würde dieses Erkennen zu erzeugen sein, wenn geistige und ethische Mächte die Welt beherrschten, – das ist jetzt nicht der Fall – Gewalt, Geldgier, Herrschsucht, Habgier, Neid, Eitelkeit, – das sind die die ganze Menscheit zerreißenden Kräfte. Davon ist auch das deutsche Volk durchaus nicht freizusprechen, daraum leidet es nicht schuldlos. Walther Rathenau glaubt an Vernichtung unseres Volkes, wenn nicht der Rachedurst der Völker aufhört, und er fragt zum Schluß: „Menschlichkeit oder Gewalt? Versöhnung oder Rache? Freiheit oder Unterdrückung? Menschen aller Völker bedenkt es! Diese Stunde entscheidet nicht nur über uns Deutsche, sie entscheidet über uns und Euch, entscheidet über uns alle“ – Das trifft zu, denn wenn Gewalt, Rache und Unterdrückung die Sieger im Weltall sind und werden, dann ist es besser, die Menschheit siecht dahin, wird sobald wie möglich der Vernichtung preisgegeben.

Vorläufig jedoch sieht es allerdings noch so aus, als wollten die bösen Gewalten sich erst recht austoben. Man schwelgt förmlich im Genuß der Rache, der Gewalt und Unterdrückung, und doch brennt tief drinnen in den Gemütern der Menschheit ein heißes Feuer, daß es ein Ende mit der Herrschaft der bösen Kräfte nehmen muß. Allem Schlimmen, allem Niedrigen gegenüber kann man nur dadurch Herr werden, wenn der Wille herrscht, das geistig Große, das tief Sittliche, das mutige Arbeiten für ein hohes Ziel daneben oder dagegen zu setzen und mit völlig anderen Waffen zu kämpfen, wie die der Gewalt, der Rache, der Unterdrückung, ich möchte dem noch hinzufügen der Lüge, Verleumdung und Intrige.

Im Gegensatz zu Walther Rathenau halte ich das deutsche Volk für nicht so schuldlos. Denn ein großes, tüchtiges Volk muß der Entwicklung zu folgen verstehen. Darin, daß es das nicht tat, kann es nicht für ganz schuldlos gelten. Durch seine Gutgläubigkeit, seine Naivität, durch seine engherzige Auffassung des politischen Lebens, seine kindliche Freude an Kleinarabeit kann vieles entschuldigt werden, aber ein großes Volk muß herauskommen aus seinen alten Traditionen, aus seinem Partikularismus, aus seinen einseitigen und kurzfristigen Ansichten des Allgemeinen, muß die staatsbildende Kraft zu einem hohen Ziel haben, daß das deutsche Reich und das deutsche Volk eins sind, eins sein müssen.

Diese Kraft, dieser Wille muß uns alle beherrschen, es muß das Gegengewicht gegen die Gewalten werden, die zerstörend von innen und von außen die Macht an sich reißen wollen.

Wir stehen auf einem wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Trümmerhaufen. Nur wir? Brennt es nicht überall, lodern nicht beständig Flammen empor? Sind die Sieger ruhig und glücklich? Durch ihre Rache- und Habgiergedanken?

Der Krieg ist vorüber, aber die Schlacht geht dennoch weiter. Die Krankheiten der Seele, hervorgerufen durch den Krieg, sind nicht nur bei uns vorhanden. Vielleicht sind sie sogar böser und gefährlicher als bei uns, denn wir werden durch Hungersnot, Unterdrückung, sklavische Behandlung bis auf die tiefsten Tiefen der Seele, des Denkens und des Empfindens aufgerüttelt. Wir fühlen etwas in uns, eine stählerne Kraft, uns gegen Gewalt und Knechtschaft, gegen Unrecht und Böswilligkeit aufzulehnen. Wohl sieht es vorläufig trostlos um uns her aus. Die Folgen des Krieges sind verheerend auf allen Gebieten, diese Säule des Leidens nimmt jedoch einmal ein Ende, die Völker und in erster Linie, so hoffen wir, das deutsche Volk, werden die sittliche Tatkraft haben, sich aus dem Schlamm und Sumpf der Erniedrigung emporzuraffen. Einem hochstrebenden, sittlichen kraftvollen Volk wird auch der Friede als holder Knabe zur Seite stehen, es wird diesem, und nur diesem, ein strahlendes Antlitz zuwenden und ihm die Siegespalme des Friedens reichen.

Noch stehen wir weit davor, noch türmen sich Schwierigkeiten auf Schwierigkeiten, noch erscheint es, als wollten Wilsons Friedensgrundsätze im Sande verlaufen, noch zerreißt anscheinend das deutsche Volk sich selbst, noch triumphieren Rachegedanken, noch ist unser Parteigetriebe beherrscht vom alten Geist, noch handeln die Arbeiter mit an der Zerstörung unseres Staatskörpers, noch erhebt sich nicht das intelligente Bürgertum zu politischen Freiheitsideen, noch ist wenig Wille vorhanden zum Stolz, zur Kraft, zum Selbstbewußtsein für das Gelingen des Neubaus unseres Reiches. Zunächst blicken wir nun auf die Tagung der Nationalversammlung. Man sagt, die „Besten“ des Volkes wären dafür erwählt worden, nehmen wir es an mit der Einschränkung, daß auch außerhalb der Nationalversammlung manche „Besten“ vorhanden sind. Jedenfalls hat nicht die Nationalversammlung allein über Wohl und Wehe des Volkes zu bestimmen. Wir alle, das ganze Volk hat das Mitbestimmungsrecht, denn wir leben jetzt in einer Republik, freilich es fehlen noch im allgemeinen die echten Republikaner. Wir wollen diese Republik auf demokratischer Grundlage aufbauen, aber das Wesen der Demokratie wird noch selten völlig erkannt. Wir stehen auf den Trümmern des alten Systems und leben vielfach noch unter den morschen Dächern desselben. Die Nationalversammlung hat nur die Aufgabe, uns ein Fundament zu schaffen, auch Frauen sollen dabei helfen, – es ist nur eine kleine Schar unter 422 Abgeordneten, etwa 30 weibliche, die aus allen Parteien sich rekrutieren. Wir werden ein scharfes Auge und ein feines Ohr für alles haben, was die Vertreter und Vertreterinnen des Volkes sagen und tun. Wir werden aber, weil wir uns als mitverantwortlich fühlen, Kritik üben, sobald die „Besten“ der Nation Wege einschlagen, die dem Wohle des Ganzen nicht genügende Garantie bieten. Nichts wird uns hindern, offen unsere Meinung zu sagen, auch denen gegenüber, die im alten System sich gottähnlich fühlten.

Die Zeiten müssen für immer vorüber sein! Wir sind ein Volk, wir wollen unseren Volksstaat und aufbauen ohne Götzendienst, in voller Freiheit des Wortes und des geistigen Kampfes. Wir wollen uns den Palmenzweig des Friedensknaben erringen durch Mut Kraft, Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit. Niemals darf wieder vom deutschen Volk gesagt werden, daß es schuldlos war und doch Unrecht beging, nein, das deutsche Volk will seinen alten, großen Besitz an Werten wieder aus dem Trümmerhaufen hervorsuchen und mit diesen gegen innere und äußere Feinde kämpfen.

(Quelle: Cauer, Minna (1919): Das Antlitz des Friedens. – In: Die Frauenbewegung : Revue für die Interessen der Frauen, Nr. 3/4, S. 7 – 8)

Diese Webseite verwendet Cookies.

Weitersurfen bedeutet: Zustimmung zur Cookie-Nutzung.

Mehr Informationen

OK