Christiane Berneike, 1994
Am 10. Dezember 1993 fand an der Uni Zürich zum 50. Todestag (20.12.93) für Anita Augspurg, eine der ersten in Zürich promovierten Juristinnen, eine Gedenkveranstaltung statt. Der folgende Text ist eine leicht gekürzte Version des Vortrags, den Christiane Berneike, Berlin, anlässlich dieser Feier gehalten hat.
Zürich 1895. Der männliche Blick:
«…eine Zeitlang ass auch die kriegerische Führerin des Internationalen Vereins mit uns, die Juristin Anita Augspurg…, Sie war schon als Studentin von einem ungeheuren Selbstbewusstsein. Mit ihrem männlich regelmassigen, von Tituslocken gekrönten Imperatorengesicht und ihrer starken, wohlklingenden Stimme verfocht sie ihre Thesen mit grossem Nachdruck, liess keine andere Meinung neben der ihrigen aufkommen und wies abweichende Ansichten mit schneidender Schärfe zurück. Wir männlichen Studenten waren nicht gegen das Frauenstudium…. Die gereizte Anmassung von Anita Augspurg aber, die jeden Einwurf mit einer geradezu forensischen Rhetorik zu Boden redete, liessen wir uns nicht gefallen.»
So der damals 23jährige Kommilitone Emil Ermatinger, später Professor für Literaturgeschichte in Zürich, in seinen Lebenserinnerungen.
Anita Augspurg wurde 1857 geboren und starb 1943. In ihrem langen, ereignisreichen Leben hat sie fast alle Möglichkeiten einer unabhängigen weiblichen Existenz ausgeschritten und diese entscheidend erweitert. Ihr Leben hat viele Spuren hinterlassen, jedoch nicht das, was herkömmlicherweise ein «Werk» genannt wird. Schon gar nicht eines, das gedruckt und gebunden in Buchhandlungen zu kaufen wäre und so vielleicht heute noch gelesen würde. Das was sie geschrieben hat, ist seit 1933 kaum noch öffentlich zur Kenntnis genommen worden. Was stattdessen immer wieder nacherzählt wird, sind die Stationen ihres ungewöhnlichen Lebens. Dies mag einmal drauf zurückzuführen sein, dass, wie Ute Gerhard es formuliert hat, «radikale demokratische Traditionen, feministische gar, … in der deutschen Geschichte und Gesellschaft einen schweren Stand» haben. Doch auch das Klischee, dass von Frauen eher die Leidensgeschichte öffentliches Interesse findet, während Männer eher über ihr Werk wahrgenommen werden, findet hier eine Bestätigung. Eine weitere Rolle spielt die Materiallage. Augspurgs wesentliches Ausdrucksmittel war die anlassbezogene, kämpferische öffentliche Rede. Ein grosser Teil ihrer in Zeitungen und Zeitschriften publizierten Texte besteht aus nachgedruckten Reden und Vorträgen. Bereits zu Lebzeiten Augspurgs ist neben diversen Ratgebern, darunter ein Kochbuch, nur ein einziger Buchtitel von ihr verlegt worden. Bis heute sind ihre Schriften nirgends herausgegeben, die Lektüre setzt mühsame Sucharbeit in Bibliotheken und Archiven voraus.
Die Herausforderung und die Faszination, die bis heute von Anita Augspurg ausgehen, haben ihre private Seite. In den Nachrufen ist die Rede von «einem Leben, das so voll ausgelebt war, dass man fast nur Dank empfindet für den Reichtum, den es enthielt».
Der «Kampf um Frieden und Freiheit», so heisst es, «gab ihr zugleich mit der Freundschaft ihrer treuen und ebenbürtigen Kameradin ein durch alle Schicksalswechsel unberührtes, sicheres Glück». Eine radikale Frauenrechtlerin und Glück? Ein sicheres gar, ein langanhaltendes? Eine Erwartung bleibt uneingelöst. Etwas fehlt: die tragische Dimension, das notwendige Scheitern. Der Preis, den sie für ihre Grenzverletzungen gezahlt haben muss: unvereinbare Widersprüche, Spott und Hohn, Armut, Wahnsinn, Selbstmord, Krankheit, früher Tod (?) … Kaum etwas davon in der Biographie Augspurgs, die offenbar mit ihrer Missachtung aller Konventionen des Weiblichen nur gewonnen hat.
Kindheit und Jugend
Anita Theodora Johanna Sophie Augspurg wurde am 22. September 1857 in Verden an der Aller, einer Kleinstadt im damaligen Königreich Hannover, geboren. Sie war das fünfte und mit Abstand jüngste Kind der norddeutschen Gelehrtenfamilie Augspurg. Ihr Geburtshaus, An der Grünen Strasse 19, dient heute einer Verdener Kirchengemeinde als Pfarrhaus.
Der Vater, Wilhelm Augspurg, war seit 1852 Obergerichtsanwalt am königlich-hannoverschen Obergericht in Verden. Er soll 1848 wegen seiner liberalen Gesinnung in Festungshaft gesessen haben.
Die Mutter, Auguste Langenbeck, stammte aus einer Mediziner- und Pastorenfamilie. Sie soll sich hauptsächlich für die Gartenarbeit interessiert und den Kindern im allgemeinen «völlige Freiheit» gelassen haben, «sich nach eigenen Vorstellungen selbst zu entwickeln».
Engere menschliche Beziehungen gab es in der Familie offenbar nicht. Anita, nach sieben Jahren noch einmal ein unerwarteter, vielleicht auch unerwünschter Nachzögling, wuchs fast wie ein Einzelkind auf. Sie muss ein einsames King gewesen sein, das stark in seiner eigenen Welt lebte.
Für die vierzehn Jahre ältere Schwester, die später eine Mädchenschule leitete, war sie das Objekt pädagogischer Experimente, so dass sie lange vor Schulbeginn bereits lesen, schreiben und stricken konnte. Sie wurde vermutlich 1864 eingeschult und besuchte bis zu ihrem 16. Lebensjahr neun Jahre lang eine örtliche Mädchenschule. Bereits während der Schulzeit erwog sie die Gründung einer «Erziehungs- und Besserungsanstalt für Ehemänner». Manchmal blieb sie aus eigenem Entschluss der Schule fern, um stattdessen lieber die Gegend zu durchstreifen.
Nach Abschluss der Schulzeit durchlebte Anita, die bis dahin immer die Lektüre von Abenteuerbüchern bevorzugt hatte, fünf quälende Jahre lang das damals übliche Martyrium des «höhren Töchterdaseins», leere «bittere Jahre», in denen die jungen Frauen auf einen passenden Ehemann warten sollten. «Rettung schuf nur eine Doppelexistenz, das heisst, das äussere Leben vollzog sich völlig getrennt vom innerlichen. Man atmete, schlief, ass, vegetierte in einer Familie, mit Menschen, mit denen man sich … durch nichts verbunden fühlte». Anita, die sich im «philistriösen Elend» und den «engherzigen Formen» der Kleinstadt so offensichtlich unglücklich fühlte, wurde von ihrer Umgebung für «überspannt» erklärt. Sie half sich über diese Zeit mit Brotarbeit in der Kanzlei des Vaters, wo sie gegen Bezahlung Akten abschrieb. Fluchtwege für höhere Töchter vor der Ehe gab es wenige. Zwei davon waren für Anita durch die beiden Schwestern, die eine Lehrerin, die andere Malerin, bereits vorgezeichnet 1878, nach Erreichen der Volljährigkeit, gelang es ihr unter dem Vorwand, einen privaten Schnellkurs für das Lehrerinnenexamen absolvieren zu wollen, das «Philisterland Verden» endlich zu verlassen.
Lehrerinnenexamen und Schauspielunterricht
Vermutlich im Herbst 1878 zog Anita Augspurg zu den Musiklehrerinnen Wendt und Jungius in die Alte Jacobistrasse 173 nach Berlin. Bereits nach einem halben Jahr, im Frühjahr 1879, bestand sie die Preussische Staatsprüfung für das Lehramt an höheren Mädchenschulen. Um nicht vor Ablauf des von den Eltern bewilligten Studienjahres nach Verden zurückkehren zu müssen, folgte die Vorbereitung auf das staatliche Turnlehrerinnenexamen, dessen Termin, vermutlich im Herbst 1879, mit der Verfügung Augspurgs über ein grossmütterliches Legat zusammenfiel.
Damit waren die finanziellen Möglichkeiten für ein von der Familie unabhängiges Leben in Berlin gegeben. Bereits vor Ablegung des Turnlehrerinnenexamens hatte Augspurg mit einer privaten Schauspielausbildung begonnen. Nach dreijähriger Ausbildungszeit ging Augspurg ihr erstes Engagement bei den «Meiningern» (Meininger Hoftheater) ein, um das berühmte Tourneetheater bereits im folgenden Jahr wieder zu verlassen. Die Theaterzettel der Spielzeit 1881/82 weisen nur eine einzige Rolle nach: eine Magd. Augspurg wechselte dann jede Spielzeit das Theater. Sie spielte in Riga und Amsterdam und war für die Spielzeit 1884/85 in Altenburg engagiert. Ihren grössten Erfolg hatte sie in einer Männerrolle. Als Mitglied einer Toumeetruppe spielte sie in Karl Gutzkows Drama «Der Königsleutnant» den jungen Johann Wolfgang Goethe. Für Augspurg, die Goethe zeitlebens in fast religiöser Weise verehrte, ein ungeheurer Triumph. 1886 verliess sie die Bühne.
In ihrem Curriculum vitae schreibt sie, dass der Tod der Mutter im Jahre 1884 sie zwang, «eine wirtschaftliche Selbständigkeit zu suchen». Diese war, «sofern die Frau Ansprüche über die bescheidenste Existenz hinaus machte», offenbar mit der Schauspielkunst nicht zu erreichen. Wesentlich beigetragen zu dem Entschluss, die Bühne zu verlassen hatte aber wohl auch der Wunsch, «anstatt die verklungenen Ereignisse der Geschichte in Bühnendarstellungen zu mimen», endlich mitzuwirken «am sich vollziehenden Wandel der Dinge in Staat und Gesellschaft».
Photoatelier und Frauenbewegung
1886 lernte Anita Augspurg im Haus ihrer Schwester die damals einundzwanzigjährige Sophia Goudstikker kennen. Die Tochter eines jüdischen Kunsthändlers, 1865 geboren, besuchte die Malschule von Amalie Augspurg in Dresden. Auf der Suche nach einer neuen Existenzgrundlage, beschlossen die beiden Frauen nach München zu gehen, in die damals «vorurteilsfreiste» Stadt, um dort ein Photoatelier zu eröffnen.
Im November 1886 trafen Goudstikker und Augspurg in München ein. Sie liessen sich den Winter über ausbilden und eröffneten am 13. Juli 1887 in der Von-der-Tann-Strasse 15 das Atelier «Elvira». Das Kapital für die Unternehmensgründung stammte wohl hauptsächlich aus einer Erbschaft Augspurgs. «In der freien Luft Süddeutschlands» konnte Anita Augspurg, wie sie sich ausdrückte, «nun die letzten Eierschalen des konventionellen Lebens» abstreifen. Durch ihre Kontakte zur Bühne und zu Künstlerinnenkreisen, aber auch durch das Aufsehen, das allein schon «die Neuheit der weiblichen Leitung», vor allem aber das eigenwillige Auftreten der beiden Geschäftsführerinnen hervorrief – sie radelten, ritten (im Herrensitz) und trugen das Haar kurz (Tituskopf) – hatte das Photoatelier «Elvira» schnell grossen Erfolg. Goudstikker (genannt «der Puck») gelang es, Kontakte zu Hof- und Adelskreisen herzustellen, sie wurde 1898 zur Königl. Bayr. Hofphotographin ernannt.
Die eher konservative Portraittechnik des Ateliers stand in einem gewissen Gegensatz zu dem gesellschaftlichen Aufsehen, das die beiden Geschäftsführerinnen verursachten. Sie wurde aber durchbrochen von bisher unbekannten Motiven in den Portraits von Schriftstellerinnen und Frauenrechtlerinnen: Frauen in «Denkerhaltung», Frauen am Schreibtisch, solche Posen waren bisher Männern vorbehalten gewesen.
Käthe Schirmacber hat 1893 in einem Brief an die Mutter ihre Eindrücke von der «gemütlichen Studentenbude» Augspurgs und Goudstikkers mit dem «sehr gut kochenden Dienstmädchen» beschrieben: «Es war zum Tollwerden schön. Und gute Gesellen dabei, dieser freie studentische Ton, das gemütliche Heim, das lockte, die Musik, die man machte – auch Violine war dabei; jetzt haben wir eine tüchtige Klavierspielerin hier…, die eine liegt auf dem Divan, die andere auf der Erde, jetzt lacht, dann schweigt man, wer rauchen will verkräuselt ein Cigarettchen…, Anita Augspurg liest vor, Goethe, Heine, dazu lustige Einfälle -, eine Freiheit der Frauenentwicklung, wie man sie in Deutschland für unmöglich hält.»
Der Kontakt zur Frauenbewegung entstand durch «zufällige Anregung». Anita Augspurg wurde Mitglied des Vereins «Frauenbildungsreform». Neu an diesem Verein waren die Forderung nach «vollständiger Aufschliessung der wissenschaftlichen Studien für das weibliche Geschlecht» und die Beschränkung auf diese Forderung. Der Verein war seit 1891 auch in München vertreten, wo Augspurg in den Vorstand gewählt wurde. Anita Augspurg war «schärfste Gegnerin aller Bildungs-Surrogate für Frauen». Der Verein petitionierte deshalb bei den Landesregierungen und im Reichstag für die Einrichtung von Mädchengymnasien. Dieses Ziel wurde in Baden erreicht. Auf Initiative des Vereins «Frauenbildungsreform» wurde am 16.9.1893 in Karlsruhe das erste deutsche Mädchengymnasium eröffnet. Für Augspurg, die die Eröffnungsrede hielt, ein Sieg der Gerechtigkeit für «eine ganze Hälfte der Menschheit» und erste Voraussetzung dafür, dass in Zukunft «Frauenhände eingreifen in das Gestalten der sozialen Verhältnisse».
Mit ihrem Engagement in der Frauenbewegung begann, häufig unter den Augen der Münchner Polizei, Anita Augspurgs Karriere als Rednerin. Ihre vielgerühmte, gutausgebildete Stimme war dabei eine der Voraussetzungen ihres Erfolgs. Mehrere ausgedehnte Vortragsreisen reduzierten ihre Mitarbeit am Atelier. In München, schrieb Augspurg 1893 an Käthe Schinnacher, sei der Verein «officiell vollkommen impotent, da wir politisch verboten, als staatsgefährdenden Bestrebungen huldigend, uns als geschlossenes Ganzes nicht sehen lassen dürfen». Dass Augspurg sich aus der Atelierarbeit zurückzog, hatte auch mit der wachsenden Entfremdung zwischen den beiden Geschäftsführerinnen zu tun. Später blieb von der Lebens- und Arbeitsgemeinschaft mit Goudstikker für Augspurg nur noch die Erinnerung daran, dass sie einmal «einem jungen Mädchen helfen wollte, das aus unerfreulichen Familienverhältnissen zu ihr geflüchtet war». Die Münchner Frauenbewegung und das Atelier «Elvira» waren auf vielfältige Weise verknüpft mit der zeitgenössischen Literaturszene. Das Atelier «Elvira» portraitierte Schriftstellerinnen wie Helene Böhlau, Gabriele Reuter, Richards Huch und Lou Andreas-Salome. Augspurg und Goudstikker dienten mehrfach als lebende Romanvorlagen. Ausführliche literarische Portraits, wie die von Sophia Goudstikker in den Erzählungen Frieda von Bülows gibt es allerdings von Augspurg nicht. Frauenbewegung und Frauenstudium waren Ende der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts häufig Themen der erzählenden Literatur. Das «Frl. Dr. jur» mit dem «Römerkopf» diente dabei mehrfach als extremes Modell der neuen Frau, zur Ausmalung des Hintergrunds, vor dem die konventionelleren Heldinnen agierten. So erscheint Dr. Babette Girl alias Anita Augspurg, die «ein richtiger Mann ist», in dem Roman «Das dritte Geschlecht» von Ernst von Wolzogen als Prototyp für «die starken Intelligenzen ohne Sinnlichkeit, für die der Mann gar keine Rolle mehr spielt».
Das Sensationelle ihres akademischen Titels, ihrer fremdartigen äusseren Erscheinung mit dem «edlen, aber auch wieder ganz männlichen Profil» und dem mehrfach erwähnten Reformkleid aus Samt zusammen mit ihrem für eine Frau als ganz ungewöhnlich empfundenen «groben sachlichen Ernst» erzeugten offenbar bei Autorinnen und Autoren eine Art verständnisloser Hochachtung, während die androgyne Sinnlichkeit der jüngeren Goudstikker anscheinend eher die literarische Phantasie beflügelte.
1893 druckte der Wilhelm Köhler Verlag in München Augspurgs einziges in Buchform erschienenes Pamphlet: «Die ethische Seite der Frauenfrage». Diese war für Augspurg inzwischen nicht mehr nur Bildungs-, sondern auch Rechtsfrage. So schreibt sie, «Recht und Bildung» seien «die beiden Forderungen der Frauenbewegung», wobei es zunächst um das Recht gehe, «welches der Frau in der Ehe zuertheilt wird».
Die Entdeckung der Frauenfrage als Rechtsfrage datiert «die Geburtsstunde der radikalen, politisch emstzunehmenden Frauenbewegung» in Deutschland. An deren Anfang stand die Auseinandersetzung mit dem drei Jahre nach der Reichsgründung (1871) begonnenen Entwurf eines ersten einheitlichen bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich. Eine Voraussetzung, um bei den «Forderungen, welche die Frauen hinsichtlich ihrer Rechtslage an eine moderne Gesetzgebung zu stellen» halten, nicht nur auf männliche Beratung und Stellvertretung angewiesen zu sein, war für Augspurg, dass die Frauen «zur Wahrnehmung und Sicherung ihrer Rechte über die nötigen juristischen Kenntnisse» verfügten.
Studium und Bürgerliches Gesetzbuch
Im Herbst 1893, inzwischen sechsunddreissigjährig, beschloss Anita Augspurg, München zu verlassen, um in Zürich die Staatswissenschaften zu studieren. Während an vielen deutschen Universitäten zu Beginn der neunziger Jahre Frauen noch nicht einmal als Gasthörerinnen geduldet wurden, hatte die Hochschule Zürich praktisch seit ihrer Gründung im Jahre 1833 Frauen als Hörerinnen zugelassen, seit 1867 auch als immatrikulierte Studentinnen.
Der Versuch der Inanspruchnahme des Stipendienfonds für studierende Mitglieder der Familie Augspurg scheiterte an einer Auslegung der Statuten: Mit «studierender Jugend» waren danach nur «männliche Studierende gemeint». Auch ohne Stipendium mietete die Studentin Augspurg zum Wintersemester 1893/94 ein Zimmer in der Pension «Rosenberg» in Zürich-Oberstrass und trug sich im Cassabuch der Hochschule für zwei dreistündige Vorlesungen zu je 15 Franken ein: «Juristische Enzyklopädie» bei Prof. Treichler und «Römische Staats-und Rechtsgeschichte» bei Prof. Schneider.
Weitere Studentinnen der Staatswissenschaften waren in diesem Semester die Danzigerin Anna Mackenroth, die sich bereits auf das Examen vorbereitete und Rosa Luxemburg. Mit beiden hat Anita Augspurg gemeinsam Vorlesungen besucht. Mit Mackenroth engagierte sie sich im Verein «Frauenbildungsreform» Zürich, mit Luxemburg im «Internationalen Studentinnenverein». Persönlich allerdings blieben sich die drei Frauen offenbar vollkommen fremd.
Bereits im November 1893 beteiligte sich die Jura-Studentin Augspurg an der Gründung des «Schweizerischen Vereins Frauenbildungsreform», gemeinsam mit ihrer Kommilitonin cand. jur. Anna Mackenroth. Beide gehörten als Korrespondentin respektive Beisitzerin dem Vorstand an, zusammen mit zwei Pionierinnen der Schweizer Frauenbewegung: Emma Boos-Jegher (1857-1932), Leiterin der Kunst- und Frauenarbeitsscbule Zürich, und Rosalie Wirz-Baumann (geb. 1863), Redakteurin der «Mitteilungen des Schweizer Frauenverbandes» und der «Schweizer Hauszeitung».
Ziel ihres Rechtsstudiums war für Anita Augspurg, das erworbene juristische Wissen möglichst schnell nutzbar zu machen für die politische Praxis. So propagierte sie gemeinsam mit Boos-Jegher und Wirz-Baumann eine neue Auslegung der Zürcher Kantonsverfassung, die ihrer Meinung nach allen Kantonsbürgerinnen das Stimmrecht gewährte. So hiess es dort in Art. 16: «Die bürgerliche Handlungsfähigkeit, das Stimmrecht und die Wählbarkeit zu allen Ämtern beginnen gleichzeitig mit dem zurückgelegten 20. Altersjahr», und in Art. 2: «Alle Bürger sind vor dem Gesetz gleich und geniessen dieselben staatsbürgerlichen Rechte, soweit nicht durch die Verfassung selbst Ausnahmen festgestellt sind». Dass hier in der Praxis eine Ausnahme bestand für alle Bürger weiblichen Geschlechts war für die Gesetzgeber offenbar so selbstverständlich gewesen, dass sie es nicht der Mühe wert gehalten hatten, diese ausdrücklich in der Verfassung festzuhalten.
In den Erinnerungen von Augspurg und Heymann heisst es: «Das Studium in Zürich war eine ungetrübt glückliche Zeit» Erwähnt wird ein Kreis «von einheimischen und ausländischen Literaten, Musikern, Malern. Es war der Kreis um Willy Bölsche, Karl Henkel, Franz und Maria Blei, Dr. Käthe Schirmacher u.a.». Das Studentinnenverzeichnis der Hochschule Zürich suggeriert, dass Anita Augspurg, Käthe Schirmacher und die damals sechsundzwanzigjährige Marie Lehjnan (später Marie Blei), die bereits seit zwei Jahren in Zürich Medizin studierte, im WS 1893/94 zusammen in der Pension «Rosenberg» in Zürich-Oberstrass gewohnt haben. Eine solche Wohngemeinschaft der drei befreundeten Studentinnen hat es allerdings nie gegeben, tatsächlich hat in diesem Semester nur Käthe Schirmacher dort gewohnt. Schirmacher und Augspurg hatten sich im September 1893 in München kennengelernt. Augspurg, die sie wie folgt beschreibt: «… kurze Haare, sehr grosse Nase, herrliche, tiefe Stimme», wurde von Schirmacher sofort zu ihrem «Bruder» erklärt, eine Anrede, die beide, später auch in der lateinischen Form «lieber frater», in ihren Briefen beibehielten, ohne jemals das formelle «Sie» aufzugeben.
Augspurg vermittelte Schirmacher noch aus München den Kontakt zu ihren Freundinnen Marie Lehmann und Franz Blei in Zürich. Sie selbst kam tatsächlich erst Anfang 1894 in die Stadt und bezog ein Zimmer in der Schönberggasse, am Schanzengraben, unweit des heutigen Universitätshauptgebäudes. Franz Blei vermittelte den Kontakt zu dem Kreis um den Philosophieprofessor Richard Avenarius, Schirmachers späterem Doktorvater. Avenarius ruderte mit Anita Augspurg über den Zürichsee und liess sich im Atelier «Elvira» photographieren. Die von Schirmacher mehrfach geäusserte, rückhaltlose Begeisterung über die Möglichkeit, als Studentin im Haus eines Hochschullehrers auch privat zu verkehren, teilte Augspurg allerdings wohl nicht.
Die Lebenserinnerungen des damals 22jährigen Franz Blei werfen noch einen etwas anderen Blick auf diese «ungetrübt glückliche Zeit»: Die «paar deutschen alten Jungfern…, die in Zürich studierten», schrieb er später, «waren alle, was man hässlich nennt, ihre Chance mit dem nichts als Weiblichen durchs Leben zu kommen, höchst gering und gar nicht verlockend».
Im Sommersemester 1894 hörte Anita Augspurg mit Anna Mackenroth «Englische Rechtsgeschichte» bei der Privatdozentin Kempin. Dass Anita Augspurg in ihrer Examensarbeit über die Geschichte des englischen Verfassungsrechts später auf Anregungen aus dieser Vorlesung Kempins zurückgegriffen hat, ist zumindest denkbar. Weitere Vorlesungen bei Kempin belegte sie allerdings nicht. In den Lebenserinnerungen werden der Name Kempin und die für damalige Verhältnisse sensationelle Möglichkeit, bei einer Frau Recht zu studieren, nicht erwähnt. Dass Studentin und Lehrerin sich persönlich völlig fremd blieben, mag auch damit zu tun haben, dass für Anita Augspurg, im Gegensatz zu Kempin, die Durchsetzung beruflicher Möglichkeiten für Juristinnen nur von politischem, nicht aber von persönlichem Interesse war.
In den nächsten beiden Semestern belegte Augspurg vor allem Übungen und Praktika zum Römischen Recht, im Sommersemester 1895 kamen Vorlesungen zum Staatsrecht hinzu. Käthe Schirmacher war nach ihrem Examen Anfang 1895 nach Paris abgereist, Franz und Maria Blei lebten zwischenzeitlich in Genf. «Mir bekommt die Züricher Einsamkeit sehr gut», schrieb Augspurg 1895 an ihren «Bruder» Schirmacher, «d. h. es ist mir schon wieder vielsam genug, nur mit dem Unterschied gegen früher, dass die Personen, mit denen ich jetzt in Berührung komme, nur äussere Interessen mit mir teilen: der innere Mensch bleibt von den Ablenkungen unberührt». Sie konzentriere sich jetzt auf «Fachstudium, resp. Fachversimpelung». In den Semesterferien allerdings radelte Augspurg der Zürcher Einsamkeit gerne davon. Sie fuhr mit dem Rad nach München und macht dabei stets Station bei ihrer Freundin, Gräfin Waldburg, auf Burg Syrgenstein. In Zürich beteiligte sie sich trotz aller Konzentration auf die «Fachversimpelung» 1895 an der Gründung des Internationalen Studentinnenvereins. Der Verein forderte u. a. eine Vertretung der Studentinnen im Delegiertenkonvent der Universität. Augspurg gehörte nicht dem Vorstand an, galt aber bald als eine «kriegerische Führerin» des Vereins. Für den Chronisten der Zürcher Studentenschaft, Hans Erb, machten sich hier «einige beredte ausländische Mitglieder – mal wieder zu Sprecherinnen der Schweizer Studentinnen». Eine eigene Vertretung der weiblichen Studierenden in den Gremien der Hochschule wurde schliesslich 1896 auf einer allgemeinen Studenten Versammlung von den männlichen Kommilitonen endgültig abgelehnt. «Ästhetische, eventuell sogar ethische Gründe» hätten dabei eine Rolle gespielt, heisst es dazu im Protokoll.
Zum Wintersemester 1895/96 wechselte Anita Augspurg für ein Semester nach Berlin. Die dortige Königliche Friedrich-Wilhelms-Universität hatte Frauen in diesem Semester erstmals als Gasthörerinnen zugelassen. Voraussetzung waren eine schriftliche Genehmigung des Rektors und des Kultusministers sowie jeweils eine persönliche Genehmigung des vortragenden Professors. Augspurg belegte Vorlesungen zum deutschen Privatrecht und zur deutschen Rechtsgeschichte. «Deutsche Rechtsgeschichte» wurde in diesem Semester von Heinrich Brunner gelesen, für dessen Vorlesungen sich auch die ehemalige Züricher Privatdozentin Emilie Kempin eingetragen hatte, die, inzwischen in Zürich gescheitert, ebenfalls im Herbst 1895 nach Berlin gekommen war. «Deutsches Privatrecht» wurde von dem Germanisten Otto Gierke gelesen, der sich in einer Umfrage zum Frauenstudium eindeutig geäussert hatte: «Unsere Zeit ist ernst. Das deutsche Volk hat anderes zu tun, als gewagte Versuche mit Frauenstudium anzustellen. Sorgen wir vor allem, dass unsere Männer Männer bleiben.»
Die Rückkehr nach München aus dem «scheusslichen Berlin» war für Augspurg mit der Hoffnung verbunden, dort ebenfalls für ein Gastsemester studieren zu können. Am 21.4.1896 richtete sie ein entsprechendes «gehorsames Gesuch» an das Kultusministerium. Die um gutachtliche Stellungnahme befragte Fakultät bemängelte die «Reihenfolge der Vorlesungen», die üblichen Anforderungen nicht entspreche, und notierte die unerhörte Tatsache, dass die Antragstellerin sich «während des verflossenen Winters durch Agitation gegen den Entwurf des Bürgerlichen Gesetzbuches … in nicht vorteilhafter Weise bekannt gemacht hat». Das Gesuch wurde mit Ministerialentschliessung vom 11.5.1896 abgelehnt.
Im Januar 1895 hatte die Jura-Studentin Augspurg erstmals öffentlich Stellung bezogen zum Entwurf des BGB. Im Zentrum der Kritik stand für die deutsche Frauenbewegung dabei das Familienrecht, für Augspurg Gesetze, die bisher nur das Mass von Unrecht normierten, «das man, ohne mit ihnen in Konflikt zu geraten, seiner Ehefrau zufügen darf». Im Entwurf des neuen BGB hatte sich für sie nicht viel daran geändert. Im Allgemeinen Teil des Entwurfs war den Frauen zwar die allgemeine Geschäftsfähigkeit zugestanden worden, rechtlich relevant war dies jedoch nur für die unverheiratete Frau. Den Ehefrauen wurden im Familienrecht ihre Rechte aus dem Allgemeinen Teil durch Sondergesetze, z. T. «analog den Rechten Minderjähriger», drastisch beschnitten. Kritisiert wurde an diesem Sonderrecht von den Frauen vor allem:
– das eheliche Güterrecht, das das Vermögen der Ehefrau der Verwaltung und Nutzniessung des Ehemannes unterstellte (gesetzlicher Güterstand der Verwaltungsgemeinschaft),
– das Elternrecht, das der Mutter nur das Recht der elterlichen Sorge, nicht aber das der Vertretung des Kindes zugestand,
– und das Unehelichenrecht, das der Mutter, wie der Ehefrau, die elterliche Gewalt über ihr Kind absprach, den Vater des unehelichen Kindes mit diesem als nicht verwandt erklärte und diesem überdies das Recht zugestand, sich seinen spärlichen Verpflichtungen durch die sogenannte «Einrede des Mehrverkehrs» völlig zu entziehen.
Eine Ehe unter solchen Gesetzen bedeute «den bürgerlichen Selbstmord» für die «denkende Frau», so der Kommentar Augspurgs.
Das WS 1895/96 hatte Augspurg, wie die Münchner Herren ganz richtig vermuteten, hauptsächlich für Agitationsreisen genutzt. Ihre vielgerühmte «meisterhafte» Rede über «das Recht der Frau» hielt sie zuerst auf einer Sitzung des Vereins «Frauenwohl» Berlin. In dem anschließenden, allgemeinen Jubel meldete sich auch die ebenfalls anwesende Emilie Kempin zu Wort Sie kommentierte die Rede ihrer ehemaligen Studentin distanziert. Das «herbe Urteil der Rednerin» könne sie nicht ganz teilen. Die Differenz zwischen den beiden Frauen war unüberbrückbar. Das BGB, für Kempin insgesamt ein grosser «Fortschritt auf rechtswissenschaftlichem und praktischen Gebiete», war für Augspurg ein «permanenter Rechtsbruch», ein «Recht», so ihre Bewertung, «ist es nicht».
Im Verein «Frauenwohl Berlin», damals Zentrum des radikalen Flügels der deutschen bürgerlichen Frauenbewegung, war das Ehrenmitglied Kempin von Anfang an isoliert. Kempin, im Gegensatz zu Augspurg verheiratet, Mutter und Ernährerin dreier Kinder, kommentierte knapp zwei Jahre später verbittert: «Was verstehen denn… alle die Kinderlosen und Unverheirateten, die in der Regel an der Spitze der Frauenbewegung stehen.»
Das BGB wurde im Sommer 1896 in 2. und 3.Lesung im Reichstag verabschiedet. Die Reichstagskommission war mit der «gewohnten Nichtachtung» über die Forderungen der Frauen hinweggegangen, allerdings mit einer «das gewohnte Mass übersteigenden Heiterkeit».
Noch im Sommer 1896, auf dem Höhepunkt der Agitation gegen das BGB, waren Augspurg im Traum bereits «die öden Folianten zu einer Doktorarbeit» erschienen. Im WS 1896/97 meldete sie sich für ein staatsrechtliches Thema bei Prof. Vogt: «Über die Entstehung und Praxis der Volksvertretung in England». Schneller als Rosa Luxemburg, wie dieser verwundert bemerkte. In seinem Gutachten bemängelte Prof. Vogt dann «die vielen allgemeinen Redensarten» in der Einleitung, lobte jedoch den «flüssigen Stil» und besonders die «kritischen Ausführungen» als «trefflich gelungen». Am 24.7.1897 wurde Augspurg zur Prüfung zugelassen und erhielt die Note «rite». Auf Burg Syrgenstein wurde der «erste weibliche Doctor» mit Böllerschüssen gefeiert, im «Allgäuer Boten» erschien ein «dichterischer Erguss» (Augspurg) des örtlichen Jägers, um diese Heldentat zu würdigen.
Minna Cauer und Lida Gustava Heymann
Nach Abschluss der Promotion zog Anita Augspurg nach Berlin. Zunächst zu Minna Cauer in die Nettelbeckstrasse, später mietete sie ein Zimmer bei der Ärztin Agnes Hacker. Der Aufenthalt im Zentrum des politischen Geschehens schien ihr notwendig, bedeutete aber «grosse persönliche Opfer». Nach ihrer Ansicht konnte niemand längere Zeit in Berlin leben, «ohne an seiner Seele Schaden zu nehmen». Sie war trotzdem dort bald «eine der populärsten Persönlichkeiten …. Witzblätter brachten sie als Athene oder als gestrenge Lehrerin, wie sie den Herren Ministern unter Drohung mit der Rute Vernunft … beibringt». Die 56jährige Minna Cauer, Vorsitzende des radikalen Berliner Vereins «Frauenwohl» und die damals vierzigjährige Anita Augspurg wurden zu einem öffentlichen Paar und galten als unzertrennlich. «Auf ein Jahrzehnt bildeten sie den Mittelpunkt der erfolgreichen radikalen Frauenbewegung und des politischen Lebens der ausserhalb der Parteien stehenden Frauen». Augspurg half Cauer bei der Herausgabe der «Frauenbewegung», ab 1899 redigierte sie eine eigene Beilage: «Parlamentarische Angelegenheiten und Gesetzgebung». Im Reichstag gingen die beiden ein und aus. Über ihr persönliches Verhältnis ist wenig bekannt. Sicher ist, dass Augspurg von Cauers Persönlichkeit und politischer Arbeit fasziniert war, in «ihrem Banne stand», wie Heymann es ausdrückte. Sie selbst bezeichnete sich als Cauers «treuen boy Anita».
Im Juli 1899 wurde in London auf Initiative der deutschen Radikalen, unter ihnen Minna Cauer, Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann, der «Internationale Verband fortschrittlicher Frauenvereine» gegründet. Im Oktober desselben Jahres, auf einer Delegiertenversammlung des Vereins «Frauenwohl» konstituierte sich ein deutscher Schwesternverband. In den Vorstand des «Verbandes fortschrittlicher Frauenvereine» gewählt werden u. a. Anita Augspurg, Minna Cauer und Lida Gustava Heymann. Schon vor ihrem Umzug nach Berlin, auf dem Berliner Frauenkongress im September 1896, hatte Anita Augspurg die zehn Jahre jüngere Lida Gustava Heymann kennengelernt. Die reiche Hamburger Kaufmannstochter Heymann stand zu diesem Zeitpunkt, wie sie es ausdruckte, «in sozialer Arbeit». Über ihre erste Begegnung mit der späteren Lebensgefährtin berichtet Heymann: «Die ersten Worte, die ich von Anita Augspurg vernahm, lauteten „Wo ist das Recht der Frau?“… Am Rednerpult stand ein Mensch in an griechische Art erinnerndem Gewände aus braunem Sammet. Schon ergrauendes kurzes Haar umrahmte eine hohe Stirn, unter der zwei klare Augen blitzten.» Diese erste Begegnung scheint zwischen beiden ziemlich viel Verwirrung gestiftet zu haben, und so stellten sie für sich zunächst mal eine Regel auf: die Regel, niemals zusammenzuziehen. Ein Grundsatz, den sie nach einigen Jahren wieder aufgaben. Beiden gefiel ein Lebensrhythmus, den Augspurg für sich gefunden hatte. Den Winter über lebten sie in der Stadt, zunächst in Berlin und Hamburg, ab 1907 hatten sie eine gemeinsame Wohnung in der Münchner Kaulbachstrasse, um dort politisch zu arbeiten. Im Sommer lebten sie in Bayern auf dem Land. Zunächst als Gäste im Kloster Schäftlarn, dann in dem Haus von Anita Augspurg in Irschenhausen, später bewirtschafteten sie nacheinander, hauptsächlich mit Frauen, zwei grosse Gutshöfe: den Siglhof und Burg Sonnensturm. Eine Aufgabe, auf die sie sich durch ein Studium der Landwirtschaft gründlich vorbereitet hatten. Über das Innenverhältnis dieser über vierzig Jahre dauernden «durch nichts jemals getrübten … beglückenden Freundschaft» (Heymann), die auch von andern als «selten schöne Gemeinschaft» beschrieben wurde, ist wenig bekannt. Die Ansicht: Das Private ist öffentlich, teilte Anita Augspurg nicht. Ob Augspurg und Heymann sich selbst als lesbisches Paar verstanden, dazu haben sie sich nicht geäussert. Sexualität mit Männern, soviel ist sicher, hatte für Augspurg hauptsächlich den einen Sinn: sie war notwendig für die Zeugung von Kindern. Lesbische Beziehungen waren für sie kein öffentliches Thema. Für Anita Augspurg war Liebe «das Geheimnis zweier Menschen» und damit Privatsache, die staatlich geregelte Institution der Ehe schon aus diesem Grund eine «Barbarei».
Die spätere Freundin Franziska von Reventlov hat 1899 in einer scharfen Polemik die Sexualfeindlichkeit grosser Teile der Frauenbewegung beklagt (für sie war sexuelle Freiheit das wesentliche Ziel jeder Emanzipation) und diese wütend zur «Feindin aller erotischer Kultur» erklärt.
1901 schrieb Augspurg auf einer Postkarte an Käthe Schirmacher: «Lieber Bruder! Was liest man über sie in den Zeitungen! So was thut man, aber man sorgt dafür, dass nicht davon gesprochen wird. Pfui.» Als um 1910 die Strafbarkeit der Homosexualität (§ 175 RSTGB) auf Frauen ausgedehnt werden sollte, hat Anita Augspurg sich nicht dazu geäusssert.
Frauenstimmrecht und Internationale Frauenliga
Im Januar 1902 gründeten Augspurg und Heymann, eine Lücke im dortigen Vereinsrecht nutzend, in Hamburg den «Deutschen Verein für Frauenstimmrecht» (später «Deutscher Verband für Frauenstimmrecht»). Der Verein, der erste seiner Art in Deutschland, forderte nicht nur eine Angleichung an das Männerstimmrecht (damals das sogenannte Dreiklassenwahlrecht, das an das Steueraufkommen gebunden war), sondern das allgemeine, freie, gleiche und geheime Wahlrecht für Frauen und Männer. Dieses Ziel ging anderen Organisationen der Frauenbewegung zu weit. In konkurrierenden Lagern wurde über Jahre gestritten, welche Forderungen die Frauenstimmrechtsbewegung denn nun zu stellen hatte. Aus den Freundinnen Schirmacher und Augspurg wurden politische Gegnerinnen, zwischen Heymann und Schirmacher gingen jahrelang erbitterte Briefe hin und her. 1904 wurde Augspurg in den Vorstand des neugegründeten «Weltbundes für Frauenstimmrecht» gewählt. Ausdruck für die Konzentration der politischen Arbeit auf die Stimmrechtsforderung war seit 1907 auch der Ersatz der «Parlamentarischen Angelegenheiten» (als Beilage der «Frauenbewegung») durch die ebenfalls von Augspurg redigierte «Zeitschrift für Frauenstimmrecht».
Bereits 1898 hatte Augspurg, anlässlich der Internationalen Friedenskonferenz von Den Haag, zu einer Kundgebung von Frauen aller Länder zur Friedensfrage aufgerufen. Im Februar 1915, ein halbes Jahr nach Ausbruch des Weltkrieges, gehörten Augspurg und Heymann zu den wenigen Frauen aus kriegsführenden und neutralen Staaten, die in Den Haag eine dort geplante Internationale Friedenskonferenz gegen den Krieg vorbereiteten.
Vom 28.4. bis zum 1.5.1915 forderten die Frauen dort vor der internationalen Öffentlichkeit u. a. «Allgemeine Abrüstung», «Ausschaltung der Privatinteressen an der Waffenproduktion», «schiedsgerichtliche Austragung und Vergleich aller internationalen Streitigkeiten» sowie «Gleichstellung der Frauen auf allen Gebieten». Anita Augspurg war es, die als Mitglied des Resolutionskomitees darauf bestanden hatte, diesen letzten Punkt in die Resolution des Kongresses aufzunehmen. Auf Initiative Heymanns, die als Übersetzerin fungierte, wurde auch ein Protest gegen die Vergewaltigung von Frauen aufgenommen, «welche die Begleiterscheinungen jedes Krieges sind».
Diese Resolution wurde der deutschen und dreizehn weiteren Regierungen durch Abgeordnete des Kongresses persönlich überreicht. Dazu berichtet Heymann: «Einige Regierungen zeigten ernsten Willen, den Forderungen der Frauen näherzutreten. Heute fragen wir uns, wie war es möglich, dass diese Mission ohne jeden Erfolg blieb? Es war möglich, weil damals sowohl das Kapital, wie das Militär das stärkste Interesse an der Fortsetzung des Krieges hatte.» 28 deutsche Frauen waren zu dem Kongress gereist. Ein Schritt, zu dem damals viel Mut gehörte. Nach ihrer Rückkehr galten sie als Vaterlands-Verräterinnen. Ihre Bemühungen um den Frieden wurden oberflächlich genannt und ins Lächerliche gezogen. In der Frauenbewegung waren die wenigen deutschen Pazifistinnen völlig isoliert. Die Vorsitzende des Bundes deutscher Frauenvereine, Gertrud Bäumer, hatte nach Den Haag geschrieben: «Es ist uns selbstverständlich, dass während eines nationalen Existenzkampfes wir Frauen zu unserem Volk gehören und nur zu ihm.»
Im November 1919 war Anita Augspurg als Vertreterin der Frauenbewegung Mitglied des provisorischen Münchner Parlaments. Augspurg und Heymann forderten vor dem Rätekongress, allerdings vergeblich, die Bildung von Frauenräten. Nachdem die Frauen im Januar 1919 offiziell das Stimmrechterhalten hatten, kandidierte Anita Augspurg erfolglos für den Bayrischen Landtag.
Nach Kriegsende hatten Augspurg und Heymann durch die Inflation einen Grossteil ihres Vermögens verloren und waren dadurch gezwungen, ihr Landgut «Burg Sonnensturm» zu verkaufen. Die dadurch gewonnene Bewegungsfreiheit ermöglichte ihnen ausgedehnte Reisen nach Nordafrika, Nordamerika und in eine Vielzahl europäischer Länder. Im Alter von 70 und 60 Jahren machten beide den Führerschein und reisten von da an im selbstgesteuerten Auto.
Im Februar 1919 erschien das erste Heft, der von Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann gegründeten Zeitschrift «Die Frau im Staat», ein Forum für pazifistische, feministische und radikaldemokratische Positionen und damit auch «ein Forum gegen den Nationalsozialismus». Augspurg und Heymann forderten die Ausweisung Hitlers aus Bayern und standen von da an ganz oben auf der Liste der nach der angestrebten Machtergreifung durch die Nationalsozialisten zu liquidierenden Personen.
Exil
Am 30. Januar 1933 befanden die beiden Freundinnen sich auf ihrer traditionellen Winterreise im spanischen Mallorca. Nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler kehrten sie nicht nach Deutschland zurück. Beide wurden ausgebürgert, ihr nicht unbeträchtlicher Besitz wurde eingezogen, das von beiden aufgebaute Archiv vermutlich vernichtet.
Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann, beide staatenlos, für die Behörden «lästige» und «hergelaufene Ausländer», überlebten mit der Hilfe von Freundinnen und Freunden die nächsten zehn Jahre im Schweizer Exil. Sie arbeiteten weiter für die Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit (IFFF), die beide 1915, nach dem Kongress in Den Haag, mitbegründet hatten. Sie wurden aber im Laufe der Jahre immer mehr gezwungen zu einer für sie, angesichts der politischen Lage in Deutschland, deprimierenden Untätigkeit: «Sinn und Ziel unseres Lebens war: für Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit in völliger Öffentlichkeit zu wirken. Diese Basis war verloren. Häufig überkam uns die Empfindung, als hätten wir uns selbst überlebt, als wären wir lebend gestorben.»
Anita Augspurg starb, sechsundachtzigjährig, am 20. Dezember 1943 im Zürcher Exil, wenige Monate nach dem Tod ihrer Lebensgefährtin Lida Gustava Heymann (31.7.1943).
Vorher hatten beide zusammen ihre Lebenserinnerungen aufgeschrieben. 1941 war die Arbeit daran abgeschlossen, an eine Veröffentlichung zu diesem Zeitpunkt war nicht zu denken. Eine verzweifelte Hoffnung, «Nichts ist unmöglich», wird auf den letzten Seiten beschworen. «Nichts ist unmöglich», die Hoffnung auf die Kraft der Frauen, damit schliessen die Erinnerungen. Eine Hoffnung. Eine Herausforderung. Für uns.
(Quelle: Berneike, Christiane (1994): „Nichts ist unmöglich“ : Anita Augspurg – eine biographische Recherche. – In: Frau ohne Herz : Feministische Lesbenzeitschrift, Nr. 33, S. 3 – 9)