Der Kampf um das Recht auf Abtreibung ist initial für das Entstehen der Neuen Frauenbewegung. Der §218 verbietet Frauen seit 1871, eine Schwangerschaft abzubrechen. Ihre Sexualität ist geprägt von Angst vor einer ungewollten Schwangerschaft. Frauen treiben dennoch ab, aber das gesetzliche Verbot treibt sie und die ÄrztInnen in die Illegalität und nicht selten in Lebensgefahr.
Der Kampf für die ‚Fristenlösung‘ – also den straffreien Schwangerschaftsabbruch in den ersten drei Monaten – und damit für das Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper und den eigenen Lebensentwurf ist also Anfang der 1970er-Jahre nicht zufällig der Auslöser für eine breite Frauenbewegung in Westdeutschland – in der DDR wird die Fristenlösung 1972 eingeführt. Der Streit um die Fristenlösung wird Jahrzehnte dauern und ist bis heute nicht beendet.
6. Juni 1971
Auf dem Titel des Stern bekennen Frauen: „Wir haben abgetrieben!“ Untertitel: „374 deutsche Frauen halten den §218 für überholt und erklären öffentlich: ‚Wir haben gegen ihn verstoßen.‘“ Unter den 374 Frauen, die den Appell „Ich bin gegen den §218 und für Wunschkinder!“ unterzeichnet haben, sind auch Prominente wie Romy Schneider, Senta Berger oder Veruschka von Lehndorff.
Initiiert hatte das Manifest Alice Schwarzer, die die Idee aus Frankreich mitgebracht hatte, wo die Journalistin zu dieser Zeit als Korrespondentin lebt und arbeitet. Das französische Wochenmagazin Nouvel Observateur hatte am 5. April 1971 das Manifest der 343 veröffentlicht: 343 Französinnen, darunter Simone de Beauvoir, Francoise Sagan und Jeanne Moreau, hatten erklärt: „Je me suis fait avorter“ – Ich habe abgetrieben. Initiatorin der Aktion ist das Mouvement de Libération des Femmes (MLF), zu dessen Mitinitiatorinnen Alice Schwarzer gehört.
Für die deutsche Selbstbezichtigungs-Aktion gewinnt Schwarzer den Stern zur Veröffentlichung und einige Frauengruppen, darunter den Sozialistischen Frauenbund Berlin. Die meisten Unterschriften werden jedoch von einzelnen engagierten Frauen gesammelt. In Deutschland wird das Stern-Manifest innerhalb weniger Tage zum nationalen Skandal – und Auslöser einer Lawine. Die Selbstbezichtigung bewegt die ganze Nation wochen-, ja monatelang. Aus einzelnen 218-Frauengruppen wird langsam ein Netz, das die ganze Bundesrepublik überzieht.
22. Juni 1971
Am Delegiertentreffen der Aktion 218 in Frankfurt nehmen knapp 100 Frauen aus 20 Städten teil. Sie zählen 2.345 Selbstbezichtigungen von Frauen, 973 von Männern und über 86.000 Solidaritätserklärungen.
In einem Protestschreiben an Justizminister Gerhard Jahn (SPD) erklären sie: „Die Aktion 218 und ihr weitreichender Erfolg sind der Beweis dafür, dass Frauen den vom Staat auferlegten Gebärzwang nicht länger als ihr individuelles Problem begreifen. Erstmals beanspruchen wir Frauen, nicht als Stimmvieh behandelt zu werden, sondern uns als aktive, politische Bürger zu artikulieren.“
19. Juli 1971
30 Delegierte der Aktion 218 überreichen dem Justizministerium die 86.000 Solidaritätserklärungen.
September 1971
Alice Schwarzer veröffentlicht im Suhrkamp-Verlag das Buch Frauen gegen den §218. Darin enthalten sind Gesprächsprotokolle mit 18 Frauen, die abgetrieben haben, ein Essay von Schwarzer zur Geschichte des §218 und der Aktion, sowie ein Kollektivtext der Münchner Sozialistischen Arbeitsgruppe zur Befreiung der Frau – Aktion 218. Die Autorinnen befürchteten, dass „CDU und SPD sich vielleicht die Hände reichen, diesmal über der Indikationslösung, und zwar gegen die ausdrücklichen Forderungen der SPD- und FDP-Frauen und sämtlicher Frauen der Aktion §218“.
2. September 1971
Justizminister Jahn kündigt eine Reform des §218 an. Allerdings lehnt er die Fristenlösung ab und favorisiert stattdessen die so genannte Indikationslösung: Ein Schwangerschaftsabbruch soll nur bei „medizinisch-sozialer“, „ethischer“ oder „eugenischer“ Indikation möglich sein, sprich: bei Gefahr für das Leben der Mutter, nach Vergewaltigung oder bei Behinderung des Fötus.
Die SPD ist über die Abtreibungsfrage gespalten, insbesondere die sozialdemokratischen Frauen wollen mehrheitlich die Fristenlösung. Die FDP ist die einzige Partei, die die Fristenlösung konsequent fordert. – In mehreren deutschen Städten demonstrieren Tausende Frauen – und solidarische Männer – gegen den Jahn-Entwurf und für eine ersatzlose Streichung des §218. Slogan: „Von Frauen, die er quält, wird Jahn nicht mehr gewählt!“
21. Februar 1972
Im Hinblick auf die Bundestagswahlen am 3. Dezember baut die katholische Kirche Druck auf die PolitikerInnen auf. So erklärt der Kölner Kardinal Höffner: „Abgeordnete, die nicht bereit sind, die Unantastbarkeit menschlichen Lebens, auch des ungeborenen Kindes, zu gewährleisten, sind für einen gläubigen Christen nicht wählbar.“ Das Kabinett stimmt einer Indikationslösung für die BRD zu.
9. März 1972
Die Volkskammer der DDR verabschiedet das ‚Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft‘. In den ersten drei Monaten nach Empfängnis darf die Frau straflos abtreiben. Der Zeitpunkt der Verabschiedung der Fristenlösung dürfte kein Zufall sein: Die DDR-Machthaber wollen verhindern, dass das Aufbegehren der Frauen von Westdeutschland überschwappt. In der Präambel des Gesetzes erklären sie: „Die Gleichberechtigung der Frau in Ausbildung und Beruf, Ehe und Familie erfordert, daß die Frau über die Schwangerschaft und deren Austragung selbst entscheiden kann.“1
11. Juni 1972
Ein Jahr nach der Stern-Aktion veranstalten Frauen in Köln das ‚erste deutsche Frauentribunal gegen den §218‘. Rund 1.200 Aktivistinnen klagen im Kölner Gürzenich die Phalanx aus Politikern, Kirchenvertretern, Ärzten, Juristen etc. an, ihnen ihr Selbstbestimmungsrecht zu verweigern.
Frühjahr 1973
Weitere Aktionen folgen. So stürmen Frauengruppen die Jahreshauptversammlung des Hartmannbundes und bewerfen die teilnehmenden Ärzte mit Mehlbeuteln und gekochten Nudeln. Im März starten §218-Aktivistinnen wegen der restriktiven Abtreibungs-Politik der katholischen Kirche eine Kirchenaustritts-Kampagne.
März 1974
Da für den Juni die Verabschiedung der §218-Reform angekündigt ist, organisieren Frauengruppen aus ganz Deutschland vom 8.-16. März die Aktion letzter Versuch. Die Aktionswoche soll Druck auf die SPD und FDP aufbauen und sie dazu bringen, der Verabschiedung der Fristenlösung zuzustimmen. Am 11. März titelt der Spiegel mit dem ‚Aufstand der Schwestern‘. Im Rahmen des Artikels bekennen 329 ÄrztInnen: „Wir haben Frauen ohne finanzielle Vorteile zur Abtreibung verholfen und werden es auch weiterhin tun.“2
Gleichzeitig erlebt die Bundesrepublik den größten Zensur-Skandale des deutschen Fernsehens. Am 9. März hatten 14 ÄrztInnen nach öffentlicher Ankündigung in Berlin einen Schwangerschaftsabbruch nach der bis dahin noch nie in der BRD praktizierten schonenden Absaugmethode durchgeführt.
Sie erklären: „Jeden Tag werden in der Bundesrepublik 2.000 bis 3.000 illegale Abtreibungen durchgeführt. Unsere Aktion soll Schluss machen mit der Heuchelei. Wir fordern gleiches Recht für alle, die Entwicklung unschädlicher Verhütungsmethoden und kinderfreundlicher Lebensbedingungen.“ Alice Schwarzer, die die Aktion initiiert hatte, filmt die Abtreibung für das Fernsehmagazin Panorama. Der Beitrag, der am 11. März gesendet werden soll und am Vormittag vom NDR-Intendaten gebilligt wird, wird eine Stunde vor Sendebeginn abgesetzt.
Ein entscheidender Grund: Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Döpfner, hatte Strafanzeige gestellt. Aus Protest gegen die Absetzung des Beitrags ziehen alle Panorama-Autoren ihre Beiträge zurück. Panorama-Chef Peter Merseburger sendet 45 Minuten lang ein leeres Studio und ermöglicht vier Tage später eine Diskussion mit Alice Schwarzer, Ingrid Kämmerer, Klaus Bölling, Helmut Oeller und Hermann Köker, die im NDR unter dem Titel Was darf das Fernsehen (FMT, FI.01.10) gesendet wird.
Die Aktion Letzter Versuch endet mit dem Nationalen Protesttag am 16. März.
26. April 1974
Der Bundestag verabschiedet mit den Stimmen von SPD und FDP die Fristenlösung. Allerdings ist auch die SPD keineswegs einheitlich für die Fristenlösung. Bundeskanzler Willy Brandt hatte vor der Abstimmung den Saal verlassen. Später erklärte er, er sei gegen Abtreibung. Grund: Er sei ein uneheliches Kind und wäre bei Legalität der Abtreibung nicht geboren worden. Die CDU/CSU-Fraktion legt gegen die Fristenlösung Verfassungsbeschwerde ein. Das Gesetz tritt nicht in Kraft.
25. Februar 1975
Die Mehrheit des Bundesverfassungsgerichts erklärt die Fristenlösung für verfassungswidrig. Am Tag vor der Entscheidung hatten rund 12.000 Frauen für eine Liberalisierung des Abtreibungsrechts demonstriert.
Allerdings stimmen zwei von acht Richtern mit einem ‚Minderheitsvotum‘ für die Fristenlösung: Wiltraut Rupp-von Brünneck, einzige Frau, sowie ihr Kollege Helmut Simon.
12. Februar 1976
Der Bundestag verabschiedet mit den Stimmen von SPD und FDP die Indikationslösung. Ein Schwangerschaftsabbruch ist ab jetzt nur dann nicht strafbar, wenn eine „medizinische“, „kriminologische“, „embryopathische“ oder eine „soziale“ Indikation vorliegt. Letztere kann für Frauen mit verständnisvollen Ärzten ein Schlupfloch sein. Wenn die schwangere Frau sich „in einer Notlage befindet, die so schwer wiegt, dass die Fortsetzung der Schwangerschaft nicht von ihr verlangt werden kann“, ist der Abbruch ebenfalls erlaubt. Die SPD stimmt dem zu und macht die Indikationslösung von nun an auch zu ihrer Sache. Resultat: Bevormundung statt Recht für die Frau.
Die Empörung der Frauen, die jahrelang für das Recht auf Schwangerschaftsabbruch gekämpft hatten, ist groß. Fraueninitiativen und -zentren organisieren in den folgenden Monaten weitere Protestaktionen, zum Beispiel demonstrativ provokative Busfahrten nach Holland, wo Abtreibungen erlaubt sind. Der Kampf um die Abschaffung des §218 steht von nun an zwar nicht mehr im Mittelpunkt der Frauenbewegung, bleibt aber – auch aufgrund seiner hohen Symbolkraft – eines ihrer Kernthemen.
9.-11. November 1978
Im Frankfurter Frauengesundheitszentrum tauschen sich rund hundert Teilnehmerinnen aus 30 Frauenzentren über die Erfahrungen mit dem reformierten §218 aus. Speziell in den CDU-regierten Bundesländern und Bayern wird das Gesetz, das einen Schwangerschaftsabbruch nur bei medizinischer/sozialer, kriminologischer oder embroypathischer Indikation erlaubt, besonders rigide ausgelegt: Ärzte weigern sich, Indikationen auszustellen, es werden keine Krankenhausbetten für Schwangerschaftsabbrüche zur Verfügung gestellt. Nach wie vor müssen Zehntausende deutsche Frauen für einen Schwangerschaftsabbruch nach Holland fahren.
Februar 1979
In Bremen eröffnet Pro Familia ein Familienplanungs-Beratungszentrum, in dem auch Schwangerschafts-Abbrüche durchgeführt werden. Es ist das erste seiner Art in Deutschland. Frauengruppen fordern „in jeder Stadt ein Behandlungszentrum wie das der Pro Familia in Bremen!“3 Weitere Pro Familia-Zentren eröffnen u.a. in Hamburg und Kiel.
September 1979
Die Liberalisierung des Abtreibungsrechts ruft die sogenannten „Lebensschützer“ auf den Plan. Sie verüben Brandanschläge auf mehrere Pro Familia-Zentren. Auch die katholische Kirche kämpft unvermindert gegen den §218 Indikationslösung. Der Kölner Kardinal Joseph Höffner erklärt unter Berufung auf das Zweite Vatikanische Konzil Abtreibung zu einem „verabscheuungswürdigen Verbrechen“.4
Die Deutsche Bischofskonferenz veröffentlicht die Erklärung ‚Dem Leben dienen‘ und verteilt sie in einer Auflage von 2,5 Millionen Exemplaren in den Kirchen. Frauengruppen organisieren Demonstrationen gegen den Versuch der Kirche, den rechtlichen Status Quo zurückzudrehen: „Die Moralisten der Nation sägen an der Indikation – Frauen wehrt euch!“5
1.-5. September 1982
Auf dem Deutschen Katholikentag in Düsseldorf starten die Deutsche Bischofskonferenz und das Zentralkomitee der Deutschen Katholiken (ZdK) eine auf mehrere Jahre angelegte Kampagne zur ‚Wähle das Leben‘. Ziel: die Wiederverschärfung des §218. Fraueninitiativen protestieren dagegen mit verschiedenen Aktionen.
Juli 1986
Neuen Schwung bekommt die Debatte, als die Zeitschrift EMMA ein Manifest veröffentlicht, in dem sie SPD, FDP und Grüne dazu auffordert, eine Verfassungsklage gegen den §218 anzustrengen, um die Fristenlösung durchzusetzen. „Wir appellieren an diese drei Parteien, den ‚Mörderinnen‘-Parolen endlich Einhalt zu gebieten und gegen den unwürdigen Zustand der Bevormundung und Demütigung von Frauen anzugehen.“6
Die drei Parteien unternehmen nichts. Gleichzeitig erklärt die CDU/CSU, den §218 wieder verschärfen zu wollen. Die Beratungspflicht soll erweitert werden: Nur noch Beratungsstellen, die „zugunsten des ungeborenen Lebens“ beraten, sollen staatlich anerkannt werden; ÄrztInnen sollen an Schulungen zum „Schutz des Lebens“ teilnehmen. Der Abbruch soll nur dann von der Krankenkasse übernommen werden, wenn der Arzt die Abtreibung an das Statistische Bundesamt meldet.
September 1988
Im bayerischen Memmingen beginnt vor dem Landgericht der Prozess gegen den Gynäkologen Horst Theissen. Als der niedergelassene Frauenarzt anonym wegen Steuerhinterziehung angezeigt wird, beschlagnahmt die Steuerfahndung die Patientinnenkartei und gibt sie an die Staatsanwaltschaft weiter. Diese leitet nun gegen 279 Frauen ein Verfahren wegen illegalen Schwangerschaftsabbruchs ein und erheben in 156 Fällen Anklage. Der Großteil endet mit einem Strafbefehl, den die meisten Frauen akzeptieren, um einen öffentlichen Gerichtsprozess zu verhindern. Auch der Gynäkologe Theissen wird angeklagt. Dieser habe angeblich Abtreibungen durchgeführt, ohne dass tatsächlich eine (soziale) Indikation vorgelegen habe. In dem Prozess gegen den Arzt führen die Richter, gegen die die Verteidigung mehrmals Befangenheitsanträge stellt, Theissens Patientinnen bewusst vor. Sie laden 79 Frauen vor, verlesen ihre Namen und befragen sie öffentlich zu intimsten Details.
Horst Theissen wird am 5. Mai 1989 vom Landgericht Memmingen zu einer Freiheitsstrafe von zweieinhalb Jahren verurteilt und erhält außerdem ein dreijähriges Berufsverbot. Nachdem er erfolgreich in Berufung gegangen ist, wird das Urteil in anderthalb Jahre auf Bewährung umgewandelt und das Berufsverbot aufgehoben. Der Memminger Prozess, der in den Medien als „Hexenprozess“ oder „Kreuzzug“ bezeichnet wird, geht als größter Abtreibungsprozess und Einschüchterungsversuch an Ärzten und Frauen in die deutsche Rechts- und Frauengeschichte ein.
Wie geht es weiter?
Die Auseinandersetzungen um das Beratungsgesetz beschäftigen Parteien und Frauenbewegung in den folgenden drei Jahren. Im Juli 1989 wird die Koalition das Gesetz für gescheitert erklären, da innerhalb von Union und FDP keine Einigung erzielt werden konnte. Mit der Wiedervereinigung entbrennt ein neuer Konflikt um den §218: Das Gesetz soll nun auch für das Gebiet der ehemaligen DDR gelten, wo seit 1972 die Fristenlösung gilt. Diesmal protestieren nur wenige Fraueninitiativen. Sie organisieren Demonstrationen in Berlin und Bonn und fordern, dass die Fristenlösung der DDR für das gesamte neue Bundesgebiet übernommen werden soll. Die Frauen in der DDR scheinen die Gefahr zunächst nicht zu erkennen. Sie halten ihr Recht auf Abtreibung für gesichert.
Am 26. Juni 1992 verabschiedet der nun gesamtdeutsche Bundestag nach einem 16-stündigen Verhandlungsmarathon einen Kompromiss: Innerhalb der ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft ist eine Abtreibung erlaubt, allerdings muss die schwangere Frau sich zwingend zuvor beraten lassen und die Beratungs-Bescheinigung dem abtreibenden Arzt vorlegen. Zwischen Beratung und Abbruch müssen drei Tage liegen. Die Mehrheit für das Gesetz kommt nur deshalb zustande, weil (vor allem) weibliche Abgeordnete aller Parteien – auch der CDU – für das Gesetz stimmen. Wie zum Beispiel Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU), die in einer leidenschaftlichen Rede erklärt: „Ich frage mich, warum in dieser Not- und Konfliktlage eigentlich dem Arzt und nachfolgend dem Richter, dem Staatsanwalt mehr Kompetenz und Verantwortung zugesprochen wird als der Frau, die die Verantwortung für das Kind nicht nur jetzt, sondern ein Leben lang übernimmt. Hören wir endlich auf, die Frauen für entscheidungsunfähig, für nicht verantwortungsfähig zu halten!“7
Im Mai 1993 erklärt das Bundesverfassungsgericht nach einer Klage der Bayerischen Staatsregierung das Gesetz für verfassungswidrig und fordert den Gesetzgeber zu Korrekturen auf. Der Bundestag verschärft den §218: Ein Schwangerschaftsabbruch ist unter den genannten Bedingungen jetzt „rechtswidrig, aber straffrei“. Die Zwangsberatung muss schriftlich dokumentiert werden. In dieser Fassung gilt der §218 in Deutschland bis heute. Damit hat Deutschland eines der restriktivsten Abtreibungsgesetze in Europa. Aus kirchennahen Kreisen der Politik und sogenannten „Lebensschützern“ geht nach wie vor Druck aus, das Gesetz wieder zu verschärfen. Christliche Fundamentalisten, oft unterstützt von evangelikalen Organisationen in den USA, veranstalten regelmäßig „Märsche für das Leben“ oder bedrängen Frauen vor Kliniken, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen.
Aktuell scheinen sich alle Parteien mit dem Status Quo arrangiert zu haben. Einen Leidensdruck gibt es bei den heute gebärfähigen Frauen aufgrund der liberalen Handhabung des Gesetzes kaum. Es gibt allerdings zahlreiche Anzeichen, sowohl national wie international, dass bestimmte Strömungen gegen das Recht auf Abtreibung das Gesetz verschärfen wollen. In Deutschland zeichnet sich das zum Beispiel bei den restriktiven Debatten um die ‚Pille danach‘ oder die Spätabtreibungen ab.
Quellen
1 Präambel des Gesetzes über die Unterbrechung der Schwangerschaft, beschlossen von der Volkskammer der DDR am 9. März 1972, verfügbar unter http://www.verfassungen.ch/de/ddr/schwangerschaftsunterbrechung72.htm
2 Abtreibung : Aufstand der Schwestern (1974). - In: Der Spiegel, Nr. 11, verfügbar unter: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-41739035.html
3 Flugblatt, 4. März, siehe Pressedokumentation: Chronologie der Auseinandersetzung um den Paragraph 218, Berichtszeitraum 01.1979-07.1979. (FMT-Signatur: PD-SE.11.21)
4 Frankfurter Rundschau, 11.9.1979, ebenda. (FMT-Signatur: PD-SE.11.21)
5 Flugblatt September, Aufruf zur Demo am 22.9.79 in Essen (1979), ebenda. (FMT-Signatur: PD-SE.11.21)
6 1196 [Eintausendeinhundersechsundneunzig] in fünf Tagen : Manifest ; "weg mit dem § 218" (1986). - In: EMMA, Nr. 12, S. 22. (FMT-Signatur: Z-Ü107:1986-12-a)
7 Faerber-Husemann, Renate (2012): Konflikte und Errungenschaften : 20 Jahre nach Änderung des Abtreibungsrechts. - Deutschlandfunk, 24.6.2012, verfügbar unter: http://www.deutschlandfunk.de/konflikte-und-errungenschaften.724.de.html?dram:article_id=210101
Alle Internetlinks wurden zuletzt abgerufen am: 05.09.2018
Auswahlbibliografie
Online verfügbare Quellen
Empfehlungen
Paragraph 218 : Dokumentation eines 100jährigen Elends (1971). - Jochimsen, Luc [Hrsg.]. Hamburg : Konkret-Literatur-Verlag. (FMT-Signatur: SE.11.051)
Schwarzer, Alice (1971): Frauen gegen den §218 : 18 Protokolle, aufgezeichnet von Alice Schwarzer. - Frankfurt am Main : Suhrkamp Verlag. (FMT-Signatur: SE.11.158)
Wir klagen an: Tribunal gegen § 218 ; Dokumentation. - Retzlaff, K. ; Degener, L. ; Hebisch, Sylvia ; Beckmann, S. ; Wellstein, U. ; Hilzinger, S. [Hrsg.]. Hamburg: Buntbuch-Verl., 1981. (FMT-Signatur: SE.11.019)
Die neuen Moralisten : §218 - vom leichtfertigen Umgang mit einem Jahrhundertthema (1984). - Paczensky, Susanne von [Hrsg.] ; Sadrozinksi, Renate [Hrsg.]. Reinbek : Rowohlt-Taschenbuch-Verlag. (FMT-Signatur: SE.11.037)
Elke Kügler (1989): Memmingen: Abtreibung vor Gericht. Pro Familia, Deutsche Gesellschaft für Familienplanung, Sexualpädagogik und Sexualberatung [Hrsg.]. - Komitee für Grundrechte und Demokratie [Hrsg.]. Braunschweig: Holtzmeyer Verlag. (FMT-Signatur: SE.11.019)
Pressedokumentation
Pressedokumentation zum Thema Abtreibung: Gegen § 218: PDF-Download
Der FMT verfügt über eine einzigartige Dokumentation zum §218, die 48 chronologisch sortierte Ordner umfasst. Die Ordner enthalten Quellen der Neuen Frauenbewegung in Form von öffentlichen Briefen, Protokollen, Flugblättern und Presseartikeln aus der feministischen Presse, Presseartikel aus der allgemeinen Presse, historische Zeitschriftenartikel und Überblicksartikel aus Sammelwerken, Gesetzesentwürfe, Parlamentsdebatten, Reden und Anfragen sowie das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 25.02.1975.
Weitere Bestände im FMT (Auswahl)
FMT-Literaturauswahl Abtreibung: Gegen § 218: PDF-Download
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