Die UNO erklärt das ‚Jahr der Frau‘, die Frauenbewegung das ‚Jahr der Frauenkämpfe‘. Nach Abtreibung und Arbeit stehen jetzt die Themen Sexualität und Liebe auf der Tagesordnung.
6. Februar 1975
Die ARD überträgt live das Streitgespräch zwischen Alice Schwarzer und Esther Vilar (Manuskript und Film). Zu diesem Zeitpunkt ist die Rolle von Schwarzer als Initiatorin der Ich habe abgetrieben-Aktion und weiterer Proteste gegen den § 218 noch nicht öffentlich bekannt. Sie gilt lediglich als Autorin der beiden ersten feministischen deutschsprachigen Bücher (Frauen gegen den § 218 und Frauenarbeit – Frauenbefreiung). Esther Vilars Buch Der dressierte Mann, in dem die Autorin Frauen als Profiteurinnen des Geschlechterverhältnisses und Männer als unterdrückte Wesen darstellt, war Dank eines Talkshowauftritts zum Bestseller geworden.
Nun trafen die Feministin und die Antifeministin öffentlich aufeinander. Die Presse berichtet genüsslich über die „Fernsehschlacht des Jahres“ (Bild) und den „Hennenkampf“ (FAZ) zwischen der „bösen Hexe mit dem stechenden Blick“ und dem „süßen Streichelkätzchen“. Die Sendung erregte wochenlang die Gemüter. Erst mit dieser Sendung wird nun auch die Journalistin und Feministin Alice Schwarzer zur öffentlichen Person.
7.-9. Februar 1975
Das ‚Jahr der Frau’ der UNO wird weltweit von Feministinnen kritisiert als ‚Versuch der Vereinnahmung’ und ‚Verwässerung’ feministischer Ziele. Gleichzeitig nutzen sie das Jahr für ihre Sache. Auf dem Nationalen Frauenkongress in Mannheim planen die Aktivistinnen Akitonen zum ‚Jahr der Frau’. Sie beraten über ihre Strategie für den Fall, dass das von der CDU/CSU angerufene Bundesverfassungsgericht die Fristenlösung kippen sollte. Sie streiten über den ‚Lohn für Hausarbeit’, und sie tauschen ihre Erfahrungen in ‚Consciousness-Raising-Groups’ (CR-Gruppen oder Selbsterfahrungsgruppen) aus.
15. Februar 1975
In Berlin erscheint Unsere Kleine Zeitung (UKZ) als erste deutsche Lesbenzeitung seit Beginn der Neuen Frauenbewegung. Auflage: 200. Sie wird herausgegeben von der 1974 gegründeten Gruppe L 74. Initiatorin ist Käthe Kuse. Wenig später bringt das Lesbische Aktionszentrum (LAZ) – die ehemalige Frauengruppe der Homosexuellen Aktion Westberlin (HAW) – ebenfalls in Berlin die Lesbenpresse heraus. Außerdem veröffentlicht das LAZ das Buch Frauenliebe mit amerikanischen Texten, darunter den Text Was jede Lesbierin wissen sollte von Rita Mae Brown und Charlotte Bunch.
25. Februar 1975
Das Bundesverfassungsgericht erklärt in seinem Urteil die Fristenlösung als unvereinbar mit dem Grundgesetz. Sechs männliche Richter berufen sich auf die „Pflicht des Staates, jedes menschliche Leben zu schützen“.
Die einzige Richterin Rupp-von Brünneck und ein weiterer Verfassungsrichter erklären in einem Minderheitenvotum die Fristenlösung für verfassungskonform. Im ganzen Land kommt es zu Protestkundgebungen und Aktionen. Das Frankfurter Frauenzentrum organisiert demonstrative ‚Fahrten nach Holland’, wo Schwangerschaftsabbrüche legal sind.
7.-9. März 1975
Das Internationale Lesbentreffen in Amsterdam wird zum Impuls für Lesbengruppen in ganz Westeuropa. In Brigitte veröffentlicht Alice Schwarzer die Reportage: Die Heimlichtuerei macht einen kaputt. Am Beispiel von zwei homosexuellen Frauen in der Provinz schildert sie die zerstörerischen Folgen der heimlichen Homosexualität – und den stolzen Aufbruch der organisierten Lesben in den Metropolen. Die Autorin geht davon aus, dass allein in der BRD ein bis zwei Millionen Lesben leben.
11.-13. April 1975
Zum zweiten Mal veranstaltet die Evangelische Akademie Loccum eine Tagung zur Emanzipation der Frau mit rund 100 weiblichen und einigen männlichen Teilnehmern. Autonome Feministinnen, Frauenpolitikerinnen und Journalistinnen tauschen sich aus über feministische Theorie und Praxis.
Frühjahr 1975
Die fünfte Ausgabe der Frauenzeitung erscheint. Schwerpunktthema ist diesmal die Sexualität. In den USA erscheint Susan Brownmillers Buch Against Our Will (deutsch: „Gegen unseren Willen“ 1978). Darin räumt Brownmiller auf mit dem ‚Vergewaltigungsmythos’, der besagt: „Vergewaltigungen sind Einzeltaten krimineller bzw. triebgestörter Männer.“ Brownmiller definiert Sexualgewalt als Mittel der Herrschaftsausübung der Männer über Frauen. Sie entlarvt auch die Vergewaltigungen von Frauen durch Soldaten als systematisch eingesetzte Kriegswaffe. Brownmillers Analyse wird zum Klassiker des neuen Feminismus, die feministische Debatte um Sexualität und Sexualgewalt zum Thema des Jahres.
Auch die Erste Frauenbewegung hatte die sogenannten ‚Sittlichkeitsfragen’ in den Mittelpunkt gestellt. Hinter diesem Begriff verbarg sich der Kampf der Sittlichkeitsbewegung gegen sexuellen Missbrauch, Vergewaltigung und Prostitution. Den Einsatz von Vergewaltigung als Kriegswaffe hatte Lida Gustava Heymann, eine Pionierin der Ersten Frauenbewegung, bereits 1915 in einer Rede anlässlich des Internationalen Frauenkongresses in Den Haag formuliert.
13.-15. Juni 1975
Beim Nationalen Frauentreffen in Saarbrücken werden weitere Aktionen gegen den § 218 geplant. Ziel der Proteste ist eigentlich die vollständige Streichung des Abtreibungsparagrafen. Die Pragmatikerinnen wären bereit, sich auch mit der Fristenlösung (Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs in den ersten drei Monaten) zu arrangieren.
30. Juni 1975
Während die Frauenbewegung einen sprunghaft anwachsenden Zulauf von Sympathisantinnen verzeichnet, suggeriert der Spiegel in einer Titelgeschichte einen Trend Zurück zur Weiblichkeit. In seinem Spiegel-Essay Der anatomische Imperativ beschwört Autor Wilhelm Bittorf den biologischen Geschlechtsunterschied, der Frauen und Männer stärker präge, ja definiere, als von den Feministinnen behauptet.
19. Juni – 2. Juli 1975
In Mexiko findet im Rahmen des UNO-‚Jahrs der Frau’ die 1. Weltfrauenkonferenz der Vereinten Nationen statt. Delegierte aus 133 Ländern verabschieden eine Deklaration zur Gleichberechtigung der Frau und einen ‚Weltaktionsplan’ mit dem Ziel, die Situation der Frauen weltweit zu verbessern. Die UNO-Generalversammlung erklärt anschließend die Jahre 1976-1985 zur ‚Dekade der Frau’. Ein Jahr später wird die UN-Frauenorganisation UNIFEM gegründet.
1. Juli 1975
Bei einer Razzia im Frankfurter Frauenzentrum beschlagnahmt das Kommissariat für Tötungsdelikte die Ärztekartei. Anlass: Die vom Zentrum öffentlich proklamierten ‚Fahrten nach Holland’. Mit der Begründung, dass Abtreibungsadressen vermittelt würden, wird das gesamte Frauenzentrum zur ‚kriminellen Vereinigung’ erklärt. Die Personalien der fünf anwesenden Frauen werden aufgenommen. Frankfurt bleibt kein Einzelfall. Auch in Stuttgart, München und Nürnberg erhalten Frauen Vorladungen von der Staatsanwaltschaft wegen ‚Beihilfe zur organisierten Abtreibung’. In vielen deutschen Städten veranstalten Frauengruppen Solidaritäts-Aktionen und Kundgebungen.
7. Juli 1975
Während des 5. Internationalen Forums des Jungen Films in Berlin hat der Film Wir haben lange geschwiegen Premiere. Der Film, der von der Frauenfilmgruppe München produziert wurde, thematisiert in Spielszenen zentrale Themen der Frauenbewegung wie Hausfrauendasein, Sexualität und Sexualgewalt.
September 1975
Der kleine Unterschied und seine großen Folgen von Alice Schwarzer erscheint im Fischer-Verlag. Nach den Themen ‚Abtreibung’ und ‚Arbeit’ nimmt sich die Autorin nun das Thema ‚Liebe und Sexualität’ vor. Am Beispiel von 15 Protokollen mit Frauen aller Altersgruppen und Soziallagen analysiert sie Liebe und Sexualität als Instrumente der (Selbst)Unterdrückung von Frauen. Das Buch wird zum ersten feministischen Bestseller und in 13 Sprachen übersetzt. In Deutschland wird die Autorin jetzt zur Symbolfigur des Feminismus – und gerät zwischen die Mühlsteine von unhierarchisch organisierter Frauenbewegung und dem Medienhype, der die feministische Kritik an dem ‚Star’ durchaus antifeministisch zu nutzen weiß.
Die Presse setzt die diffamierende Berichterstattung über Alice Schwarzer fort, die schon nach dem Streitgespräch mit Esther Vilar im Februar begonnen hatte. In der Zeit beschreibt Schulz-Gerstein die Angriffe auf Schwarzer als die „bisher längste und perfideste journalistische Menschenjagd in der Geschichte der Bundesrepublik“.
Gleichzeitig wird immer deutlicher, dass die nur in ihren Anfängen einige Frauenbewegung in mehrere Strömungen auseinanderdriftet. Die Hauptströmungen: Die eng an die Linke gebundenen ‚sozialistischen Feministinnen’, für die Klassenkampf vor Geschlechterkampf geht (und die nicht selten von linken Gruppen in die Frauenzentren geschickt werden); die neu entstehenden und ebenfalls stark aus der Linken kommenden Anhängerinnen einer ‚neuen Weiblichkeit’ (die u.a. für die Forderung nach Lohn für Hausarbeit und die Überzeugung stehen, dass Frauen ‚von Natur aus friedfertig’ und die ‚besseren Menschen’ sind); und die sogenannten radikalen Feministinnen, die als überzeugte Anti-Biologistinnen für die uneingeschränkte Gleichheit der Geschlechter stehen.
Die Zeit der autonomen Frauenprojekte bricht an. In Berlin eröffnet in der Kreuzberger Yorkstraße die erste Frauenkneipe der Bundesrepublik: Blocksberg. Die Zeit berichtet: „Frauen, Bier und keine Männer“.
Ebenfalls in Berlin erscheint das Buch Hexengeflüster im Selbstverlag. Es ist das erste deutschsprachige feministische Buch zur Gesundheits-Selbsthilfe und thematisiert nach dem Vorbild des 1971 in den USA erschienenen Our Bodies – Ourselves ein ganzheitliches Körper- und Selbstverständnis. In München gründet eine Frauengruppe, die sich vom linken Trikont-Verlag abspaltet, die Frauenoffensive, den ersten Frauenverlag der Bundesrepublik.
In der Frauenoffensive veröffentlicht Verena Stefan ihr Buch Häutungen. Analog zu den zentralen Themen der Neuen Frauenbewegung verarbeitet Stefan autobiografische Erfahrungen und kreiiert damit das Genre ‚Betroffenheitsliteratur’. Häutungen wird zum Kultbuch der Frauenbewegung. Gleichzeitig beginnen die ersten programmatischen Diskussionen über ‚Frauenliteratur’: Gibt es ein ‚weibliches Schreiben’? Oder gibt es nur ‚weibliche Bedingungen des Schreibens’, wie es die Schriftstellerin Virginia Woolf in ihrem Essay Ein Zimmer für sich allein analysierte?
23.-26. Oktober 1975
In mehreren deutschen Städten starten Frauengruppen Demonstrationen und Aktionen zum § 218. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Februar hat die SPD/FDP-Koalition nun einen neuen Gesetzentwurf vorgelegt. Der Entwurf, der Anfang 1976 im Bundestag verabschiedet werden soll, erweitert die Indikationslösung um die ‚soziale Indikation’. Da diese nur äußerst vage definiert ist, protestieren die Frauen gegen diese neuerliche „Auslieferung der Frauen an die willkürliche Auslegung des Gesetzes durch die Ärzte“.
5. November 1975
In München eröffnen 17 Frauen als Kollektiv den ersten deutschen Frauenbuchladen Lillemore’s. Knapp zwei Wochen später eröffnet am 15. November in Berlin der zweite Frauenbuchladen Labrys. Zwei Jahre später gibt es in der BRD schon zwölf Frauenbuchläden.
November 1975
In den Kinos startet der Pornofilm Geschichte der O nach der Buchvorlage von Pauline Réage (Pseudonym). In dem Film geht es um eine Frau, die ihrer Identität beraubt und sexuell versklavt wird und darin Erfüllung findet.
Frauengruppen stürmen die Kinos mit Stinkbomben und Farbsprühdosen. Sie erstatten Anzeige wegen Verharmlosung von Gewalt und Verstoßes gegen das Gesetz gegen Gewaltpornografie. Es sind die ersten feministischen Proteste gegen Pornografie in Deutschland.
10. Dezember 1975
Zum Ende des UNO-‚Jahrs der Frau’ zieht die ARD in einer Sondersendung Bilanz: „Ist das Ende der Männerherrschaft in Sicht?“ PolitikerInnen, WissenschaftlerInnen und GewerkschafterInnen stehen in einem Hearing Rede und Antwort. (FR-Artikel: Das Jahr der schönen Worte)
In einem Spiegel-Interview mit Alice Schwarzer äußert sich Simone de Beauvoir kritisch und bissig zum ‚Jahr der Frau’: „Demnächst kommt das Jahr des Meeres, dann das Jahr des Pferdes, des Hundes und so weiter … Das heißt: Man hält uns Frauen für Objekte, die es in dieser Männerwelt nicht wert sind, mehr als ein Jahr lang ernst genommen zu werden.“
Im selben Gespräch erteilt Beauvoir der ‚Neuen Weiblichkeit’, der ‚Mystifizierung der Mutterschaft’ und der Hinwendung einer Strömung zur Esoterik eine klare Absage: „Wenn man uns sagt: ‚Immer schön Frau bleiben. Überlasst uns nur all diese lästigen Sachen: Macht, Ehe, Karrieren … Seid zufrieden, dass ihr so seid: Erdverbunden, befasst mit menschlichen Aufgaben …’ dann sollten wir auf der Hut sein.“
Auf Initiative des Frankfurter Frauenzentrums erscheint das Frauenjahrbuch 75: „Die Idee, ein Frauenjahrbuch, geht zurück auf die Erfahrungen mit Frauenbewegungen anderer Länder, deren Entwicklung wir aufgrund einer Vielzahl Veröffentlichungen verfolgen können. Das Frauenjahrbuch soll uns die Möglichkeit schaffen, den jetzigen Stand der Bewegung immer wieder zu erinnnern und zu analysieren.“