Als EMMA 1978 erstmals das Tabu brach und über sexuellen Missbrauch berichtete, war die Reaktion – Schweigen. Auch bei den Opfern. Es sollte noch fünf Jahre dauern, bis Feministinnen die erste Selbsthilfegruppe gründeten: Wildwasser. Im selben Jahr eröffnete Deutschlands erste Mädchenhaus. Zweiunddreißig Jahre später handelte endlich auch die Politik.
April 1978
EMMA berichtet unter dem Titel Das Verbrechen, über das niemand spricht über den sexuellen Missbrauch von Mädchen (und seltener: Jungen) durch die eigenen (Stief)Väter. „Eines der größten Tabus und eines der größten Verbrechen der Männergesellschaft: Väter, die sich an den ihnen hilflos ausgelieferten Töchtern vergehen!“ schreibt die Zeitschrift und lässt eines dieser Mädchen, die 14-jährige Petra, von ihrem Missbrauch durch den eigenen Vater erzählen. Sie war mit der Mutter vor dem Vater in das Berliner Frauenhaus geflohen.
EMMA versucht, ein Licht auf das noch weitgehend im Dunkeln liegende Ausmaß des sexuellen Missbrauchs zu werfen: „Zahlen gibt es kaum. Die wenigen Untersuchungen lassen das Ausmaß des Problems nur erahnen: Drei Viertel aller sexuell missbrauchten Kinder (überwiegend Mädchen) kannten den Täter schon vorher; bei mehr als jedem vierten Kind war es der eigene Vater oder Stiefvater.“ Diese Relationen sollten sich später bestätigen. EMMA weist gleichzeitig auf die tragische Rolle der Mütter hin, die aus Angst oder Abhängigkeit vom Täter oder auch aus Rivalität mit der Tochter, häufig zu den Taten schweigen.
Der Artikel problematisiert gleichzeitig, dass ,progressive‘ Sexualwissenschaftler das Machtgefälle zwischen Täter und Opfer leugnen und dafür plädieren, den Inzest-§176 zu streichen und sexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen und Kindern unter bestimmten Bedingungen straffrei zu lassen. Die Zeitschrift startet einen Aufruf: „Wir bitten Mädchen, die betroffen sind, nicht länger zu schweigen! Mädchen, die niemanden finden, der ihnen hilft, sich zu wehren, sollten sich sofort bei uns melden.“ Auf diese Aufforderung erhält die Redaktion damals kaum Reaktionen. Noch ist das Thema offenbar so tabuisiert, dass kaum ein Opfer zu sprechen wagt.
1979
Immer häufiger melden sich offen pädosexuelle Männer in den Medien zu Wort und fordern die Abschaffung des §176, der sexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen und Kindern unter Strafe stellt.
Ihre Behauptung: Das Kind habe eigene sexuelle Bedürfnisse, die von der ,prüden, bürgerlichen Gesellschaft‘ geleugnet würden. Solange keine ,echte‘ Gewalt angewendet werde, befriedigten Pädosexuelle die Bedürfnisse des Kindes.
In der taz fordern – unwidersprochen – mehrere offen pädosexuelle Autoren die Streichung von Gesetzen, die sexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen und Kindern unter Strafe stellen. So erklärt unter dem Titel Pädophilie: Verbrechen ohne Opfer1 der homosexuelle Olaf Stüber: „Ich liebe Jungs“ und fordert im Namen der „sexuellen Revolution“ eine Reform der Pädophilie-Gesetze: „Eine Liberalisierung, das heißt in diesem Fall eine Senkung des sog. ‚Schutzalters‘, kann nur ein erster taktischer Schritt sein.“ (…) „Wir müssen weg von der verkrüppelten staatlich verordneten Normalität.“ Der ebenfalls offen pädosexuelle Peter Merer fragt: „Kinderschänder? (…) Wir lieben Kinder mit und ohne Kleidung. Die Sexualgesetzgebung und eure Moral macht aus Menschen, die Kinder lieben, Verbrecher. Wo Menschen Kinder lieben, schwindet Unterdrückung.“2
Auch der Erzieher und Drogenberater Peter Hartleb, der wegen sexuellen Missbrauchs eines Mädchens vom Landgericht Marburg zu zwei Jahren und drei Monaten Haft verurteilt worden war, darf in der taz sein ,Gnadengesuch‘ veröffentlichen. Laut taz wurde Hartleb zu Unrecht verurteilt, da „Peter im Dezember 1976 erwünschte Streichelsexualität mit einer 6-jährigen Freundin“3 hatte. Die Forderung nach Streichung des §176 wird im Namen einer ,befreiten Sexualmoral‘ auch in anderen ,progressiven‘ Medien erhoben, darunter von renommierten Sexualwissenschaftlern.
1980
In den USA erscheint das Buch der amerikanischen Sozialarbeiterin Florence Rush: Das bestgehütete Geheimnis – sexueller Kindesmissbrauch (Originaltitel: The Best Kept Secret – Sexual Abuse of Children, 1980).4 Rush beklagt den „epidemieartigen“ Missbrauch von Mädchen und Jungen und erklärt: „Ich habe erkennen müssen, dass Kindesbelästigung durch einen geschätzten Freund der Familie oder einen Verwandten, ebenso durch einen Fremden, absolut nichts Außergewöhnliches ist. Es wird Zeit, dass wir der Tatsache ins Auge sehen: Der sexuelle Missbrauch von Kindern ist kein gelegentlicher Ausrutscher, sondern ein verheerender Tatbestand des alltäglichen Lebens.“5 Die deutsche Übersetzung erscheint zwei Jahre später im Sub-Rosa-Frauenverlag (siehe Dossier Frauenprojekte).
April 1980
In EMMA führt Alice Schwarzer unter dem Titel Wie frei macht Pädophilie? ein Gespräch mit Günter Amendt. Hintergrund: Die SPD will unter dem Einfluss der Pädosexuellen-Lobby im Zuge der Sexualstrafrechtsreform den §176 streichen, der liberale Koalitionspartner FDP signalisiert Zustimmung. Das Gespräch Schwarzer/Amendt will dagegenhalten. Der bekannte Pädagoge und Autor des Aufklärungsbuches Sexfront distanziert sich in dem Gespräch von einer Streichung des §176, weil es „hier um Beziehungen von Ungleichen, um Herrschaft und letztlich um Ausbeutung geht“. Amendt ist Teil der linken Szene, in der die Akzeptanz der Pädosexualität am stärksten verbreitet ist. Das Gespräch wird breit rezipiert. Der §176 wird nicht gestrichen.
Juni 1980
Auf dem Dortmunder Parteitag der im Januar 1980 gegründeten Partei Die Grünen präsentieren sich auf der Bühne Mitglieder der Nürnberger Indianerkommune, in der pädosexuelle Erwachsene und Minderjährige gemeinsam leben, und propagieren Pädosexualität als ,antibürgerliche‘ und kinderfreundliche Lebensweise. Auch in den folgenden Jahren werden Pädosexuelle Die Grünen und ihr Eintreten für ,sexuelle Minderheiten‘ nutzen, um ihre Forderungen in die Wahlprogramme zu bringen. In der AG Schwule und Päderasten (SchwuP) arbeiten homosexuelle Männer offen mit pädosexuellen Männern zusammen und machen sich deren Forderungen nach der Straffreiheit von ,gewaltfreiem‘ Sex mit Kindern zu eigen.6
Juni 1983
In Hamburg eröffnet das erste Mädchenhaus Deutschlands. Mädchen, die in ihren Familien Opfer von sexuellem Missbrauch und/oder Misshandlung geworden sind, können in Schutzwohnungen bzw. -häusern, betreut von Fachfrauen, wohnen. Die zehn Plätze der neuen Zuflucht sind nach wenigen Wochen belegt. Das Hamburger Mädchenhaus wird in Trägerschaft der Stadt gegründet und vom Landesjugendamt finanziert. In anderen Städten sind es überwiegend feministische Initiativen, die sich für weitere Mädchenhäuser einsetzen (zum Dossier Frauenhäuser). 1988 wird in München das erste autonome Mädchenhaus Deutschlands eröffnen. Initiiert hatte das Projekt die Initiative Münchner Mädchenarbeit (IMMA). Jedes zweite der rund einhundertfünfzig Mädchen, das in einem Mädchenhaus lebt, stammt aus dem islamischen Kulturkreis. Ab 1985 gründen sich deshalb spezielle Schutzprojekte für Mädchen aus diesem Kulturkreis wie Papatya in Berlin (1985) oder Rosa in Stuttgart (1986).7
Oktober 1983
In Berlin gründen Frauen die Selbsthilfegruppe Wildwasser.8 Die Gruppe, die zunächst in einem von Frauen besetzten Haus in der Potsdamer Straße ein kleines Büro bezieht, unterstützt Mädchen und Frauen, die Opfer von sexuellem Missbrauch wurden, bei der Bewältigung der psychischen und physischen Folgen und ggf. der Verfolgung des Täters. Die Gründung markiert den Beginn der selbstorganisierten Arbeit von Feministinnen mit Missbrauchs-Opfern. Das Bewusstsein dafür, wie viele Mädchen und Jungen in ihrem engen sozialen Umfeld sexuell missbraucht werden, wächst. Ebenso steigt mit zunehmender Aufklärungsarbeit das Verständnis der gravierenden und oft lebenslangen Folgen, die der Missbrauch für die Opfer hat, wie Wildwasser in einem Informationsblatt erklärt: Selbstzerstörungswille, Süchte, Depressionen, Ängste.9
Bald darauf gründen sich in weiteren Städten Wildwasser-Gruppen in der ganzen BRD. Wildwasser Berlin wird ab 1985 zunächst städtisch, später auf Bundesebene als Modellprojekt finanziell gefördert. Im Laufe der Jahre professionalisieren sich die Gruppen und werden zu Beratungsstellen mit Fachpersonal. 2017 gibt es in ganz Deutschland einunddreißig Wildwasser-Beratungsstellen.
1984
Im Juni erscheint das Buch Väter als Täter von Barbara Kavemann und Ingrid Lohstöter.10 Die Soziologin und die Rechtsanwältin hatten zuvor eine Expertise über Art und Ausmaß des sexuellen Missbrauchs für den sechsten Jugendbericht der Bundesregierung veröffentlicht. Als „unvorstellbar groß“ hatten sie das Ausmaß bezeichnet, in dem „speziell Mädchen sexuellen Angriffen in der Familie“ ausgesetzt sind.11
Am 16. Juli 1984 bringt der Spiegel eine Titelgeschichte über sexuellen Missbrauch in der Familie: Das geheimste Verbrechen.12 Kurz davor hatte das amerikanische Magazin Newsweek13 ebenfalls in einer Titelgeschichte von einer „versteckten Epidemie“ gesprochen, der jährlich eine halbe Million Kinder, vor allem Mädchen, zum Opfer fielen.
Der Spiegel referiert die Polizeiliche Kriminalstatistik, laut der im Jahr 1981 über 12.000 Kinder (85% Mädchen) Opfer von sexuellem Missbrauch wurden. Dazu komme ein „riesiges kriminalistisches Dunkelfeld“, denn Experten schätzen, dass nur jeder zehnte bis 20. Fall angezeigt wird. „Das hieße, dass bei zurückhaltender Schätzung jährlich etwa 150 000 Kinder sexueller Gewalt zum Opfer fallen.“
Spiegel-Autorin Valeska von Roques berichtet auch über eine Veranstaltung von Wildwasser in der TU Berlin, bei der Opfer öffentlich über ihre Missbrauchserfahrungen berichten. Immer mehr Opfer brechen das Schweigen.
Im August 1984 zeigt die ARD den Film Das schreckliche Geheimnis – Sexueller Missbrauch in der Familie. Autorin Sabine Zurmühl, ehemals eine der Courage-Gründerinnen, hat die Dokumentation mit Unterstützung von Wildwasser realisiert.
9. März 1985
Auf ihrem Landesparteitag verabschieden die nordrhein-westfälischen Grünen ein Wahlprogramm, in dem sie die Abschaffung des §176 fordern. „Einvernehmliche Sexualität ist eine Form der Kommunikation zwischen Menschen jeglichen Alters (…)“ heißt es dort und: „Gewaltfreie Sexualität darf niemals Gegenstand strafrechtlicher Verfolgung sein. Daher sind alle Straftatbestände zu streichen, die gewaltfreie Sexualität mit Strafe bedrohen.“14 Dass Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern aufgrund des Machtgefälles per se gewaltvoll ist, ignoriert der Beschluss.
1987
In Köln gründet sich der Verein Zartbitter. Die Gründerinnen und Gründer wollen zunächst Fachkräfte vernetzen und Präventionsangebote gegen sexuellen Missbrauch entwickeln. Aber als die Medien den Termin für das „Fachgruppentreffen“ bekannt geben, kommen vor allem Opfer von Missbrauch, die Unterstützung suchen: „Neunzehn betroffene Frauen quetschten sich in den relativ kleinen Raum. Die Berichterstattung hatte sie ermutigt, sich auf den Weg zu machen. Die mutigen Frauen hatten mit ihren Füßen ein klare Entscheidung getroffen: Von diesem Tag an verstand sich Zartbitter auch als Kontaktstelle und Informationsstelle für Betroffene.“ Zartbitter und insbesondere seine Gründerin Ursula Enders werden zu einer wichtigen Stimme im Kampf gegen sexuellen Missbrauch. Drei Jahre nach Gründung gibt die Beratungsstelle das Handbuch Zart war ich, bitter war‘s15 heraus, das zum bald zum Klassiker wird.
Wie geht es weiter?
Nachdem es der Frauenbewegung gelungen ist, das Schweigen um den sexuellen Missbrauch zu brechen bzw. der Öffentlichkeit klarzumachen, dass das ,Kavaliersdelikt‘ in Wahrheit ein schweres Verbrechen ist, folgt Anfang der 1990er Jahre der ,Backlash‘ auf dem Fuße: Das Schlagwort vom Missbrauch des Missbrauchs macht die Runde. Tenor: Sexueller Missbrauch und sein epidemisches Ausmaß seien ein Mythos, gepflegt von hysterischen Feministinnen, die überall sexuelle Übergriffe wittern, wo keine sind. ProtagonistInnen des Missbrauch des Missbrauchs-Slogans sind die Lehrerin Katharina Rutschky und der Pädagoge Prof. Reinhart Wolff. Wolff hatte Ende der 1980er Jahre im Auftrag des Deutschen Kinderschutzbundes die Strategie ‚Hilfe statt Strafe‘ entwickelt, die Täter im Rahmen eines „familienorientierten Ansatzes“ nicht von den Opfern trennt.16 Rutschky veröffentlicht 1992 im linken konkret-Verlag die Schrift Erregte Aufklärung, in dem sie Feministinnen, die sexuellen Missbrauch anprangern, „Wahnbildung“ und „dogmatische Männerfeindlichkeit“ unterstellt.17 Das Buch wird breit und auch von seriösen Medien positiv und als „kluger Beitrag“ (FAZ) rezipiert.18 Von „Missbrauchsmythen“ und „Dunkelzifferhysterie“ ist die Rede.
Im Mai 1993 veröffentlicht EMMA einen Artikel, in dem sie das gut funktionierende Netzwerk aus pädosexuellenfreundlichen Gutachtern, Rechtsanwälten, Wissenschaftlern und Organisationen wie der Arbeitsgemeinschaft Humane Sexualität (AHS) aufdeckt. Selbst der Vorsitzende des Deutschen Kinderschutzbundes, Walter Bärsch, ist offenbar in das Netz verstrickt. Der Artikel wird trotz seiner Brisanz von den anderen Medien ignoriert. Das mediale Interesse daran erwacht erst, als im Jahr 2013 – also 20 Jahre später! – der Göttinger Professor Franz Walter die Rolle der Grünen bei der Verharmlosung des sexuellen Missbrauchs untersucht und dabei auf die gleichen Netzwerke stößt.
Zwei Prozesse aus dem Jahr 1993 zeigen, wie stark das gesellschaftliche Klima durch die Missbrauch des Missbrauchs-Kampagne bereits gekippt ist: Der Prozess gegen den Erzieher einer Kindertagesstätte in Coesfeld und die sogenannten Wormser Prozesse. Obwohl das Verfahren in beiden Fällen mit eindeutigen Aussagen der Kinder sowie ärztlichen Gutachten startet, die die Aussagen der Kinder bestätigen, werden alle Angeklagten freigesprochen. In beiden Fällen gelingt es einschlägigen Gutachtern, die Glaubwürdigkeit der Kinder zu erschüttern und die Mitarbeiterinnen von Wildwasser, die die Kinder befragt hatten, als ideologisch verblendete Feministinnen zu denunzieren, die den Kindern den Missbrauch angeblich suggeriert hätten.
Eine entscheidende Rolle bei der jeweiligen Wendung des Prozesses spielen die GerichtsreporterInnen Gerhard Mauz und Gisela Friedrichsen vom Spiegel. Sie bezeichnen die Ärzte, die die Verletzungen der Kinder diagnostiziert hatten, als „Hexenjäger“ und bescheinigen der Wormser Wildwasser-Therapeutin „dilettantischen Ermittlungseifer“. In den folgenden Jahren wird das Duo Mauz/Friedrichsen in Missbrauchsprozessen immer wieder durch seine parteiliche Berichterstattung pro mutmaßliche Täter auffallen.
Der Versuch der Einschüchterung von Opfern und ihren potenziellen HelferInnen durch die Missbrauch des Missbrauchs-Kampagne ist gelungen.
Am 17. November 1999 erscheint in der Frankfurter Rundschau der Artikel Der Lack ist ab. Darin schildert Autor Jörg Schindler, das Gerold Becker, Leiter der hessischen Odenwaldschule von 1972 bis 1985, mehrere Schüler regelmäßig sexuell missbraucht hat. Zwei dieser Schüler hatten sich an mehrere Zeitungen gewandt, als Becker im Jahr 1998 wieder Aufgaben an der Schule übernahm. Nur die Frankfurter Rundschau und EMMA berichten über den Skandal, die anderen lehnen ab. Eine Reaktion bleibt aus. Noch herrscht kollektives Schweigen über die Tatsache, dass an der Reformpädagogik-Schule, die als linkes Vorzeige-Projekt gilt, sexuelle Übergriffe systematisch waren.
Im März 2001 schreibt Alice Schwarzer den Artikel In der Vergangenheit liegt die Gegenwart über Daniel Cohn-Bendit. ,Dany le Rouge‘, inzwischen EU-Abgeordneter der Grünen, hatte 1975 in seiner Autobiografie Der große Basar auch über seine zweijährige Zeit als Kindergärtner zwischen 1972 und 1974 berichtet – und darin erzählt, wie sein „ständiger Flirt mit den Kindern bald erotische Züge“ annahm. „Ich konnte richtig fühlen, wie die kleinen Mädchen von fünf schon gelernt hatten, mich anzumachen.“ Und wie es „mehrmals passierte, dass einige Kinder meinen Hosenlatz öffneten und angefangen haben, mich zu streicheln.“ Er habe sie dann, „wenn sie darauf bestanden“, ebenfalls gestreichelt.
Als diese Zitate Anfang der 2000er Jahre erneut öffentlich debattiert werden, behauptet Cohn-Bendit, es handle sich just in diesem Teil seines Lebensberichtes um Fiktion. Schwarzer wirft Cohn-Bendit vor, sich nie von seinem damaligen Verhalten, von diesem Zeitgeist distanziert zu haben: „Ich erwarte, dass er sich nicht wieder rausredet, sondern dass er die Verantwortung übernimmt für das, was er gedacht, getan und gepredigt hat.“19 Cohn-Bendit hat seiner alten politischen Weggefährtin nie geantwortet. Erst als 2013 erneut Kritik aufkam an seinem Verhalten, begann er, sich selbstkritisch zu seiner früheren Propagierung der Pädophilie zu äußern.
Im Januar 2010 wird öffentlich, dass am katholischen Berliner Canisius-Kolleg in den 1970er und 1980er Jahren Schüler regelmäßig durch Priester sexuell missbraucht wurden. Der Fall ist der Auftakt zum Bekanntwerden einer ganzen Welle von Missbrauchsfällen an katholischen Schulen. Frauen und Männer, die in (kirchlichen) Heimen missbraucht wurden, melden sich zu Wort. Das Thema sexueller Missbrauch ist Thema in allen Talkshows, die Regierung unter Zugzwang. Die schwarz-gelbe Koalition richtet einen Runden Tisch ein, an dem auch die Bundesarbeitsgemeinschaft Feministischer Organisationen gegen Sexuelle Gewalt an Frauen und Mädchen (BAG Forsa) vertreten ist.
Die Regierung beauftragt Ex-Frauenministerin Christine Bergmann (SPD) mit der Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs nicht nur unter dem Dach der katholischen Kirche, sondern überall: in Familien, Schulen, Vereinen und anderen Institutionen. Die ,Unabhängige Beauftragte zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs‘, wie Bergmanns Funktion nun offiziell heißt, richtet eine Hotline für Betroffene ein. Über 11.000 rufen an, die jüngste ist sechs, die älteste 89 Jahre alt. Bergmann, die auch Beratungsstellen und TherapeutInnen befragt, präsentiert der Regierung schließlich einen Forderungskatalog. Er reicht von der Finanzierung der Beratungsstellen als Pflichtaufgabe bis zur Verlängerung der Verjährungsfristen. Der Katalog ist ein historisches Dokument. Die Forderungen, die Missbrauchs-Opfer und feministische Beratungsstellen seit Jahrzehnten stellen, sind nun erstmals von offizieller Stelle aufgenommen worden.
In diesem sensibilisierten Klima findet nun auch der systematische Missbrauch an der Odenwaldschule durch Schulleiter Gerold Becker und weitere Lehrer öffentliches Gehör. Auch die fatale Rolle der Grünen, aber auch der FDP sowie linker und liberaler Medien von taz bis Zeit, bei der Verharmlosung sexuellen Missbrauchs werden nun Thema. Die Grünen beauftragten den Göttinger Professor Franz Walter mit der Aufarbeitung ihrer Geschichte. Dessen Ergebnisse sowie der kaltschnäuzige Umgang grüner Funktionäre wie Jürgen Trittin oder Volker Beck kosten Die Grünen bei den Bundestagswahlen 2013 mehrere Prozent WählerInnenstimmen.
Das Ausmaß des sexuellen Missbrauchs in Familien und Institutionen sowie die traumatischen Folgen für die Opfer ist heute öffentlich präsent. Im Zuge der Missbrauchs-Debatte seit 2010 und nach dem Abschlussbericht des Runden Tisches wurde ein Fonds Sexueller Missbrauch eingerichtet, aus dem Opfer sexuellen Missbrauchs Zahlungen erhalten können, zum Beispiel für Therapiekosten. Der Bund hat 50 Millionen Euro in den Fonds eingezahlt, von den Bundesländern haben bisher nur zwei von 16 einen Beitrag geleistet (Bayern und Mecklenburg-Vorpommern).
Der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs arbeitet seit Mai 2015 mit einem 15-köpfigen ,Betroffenenrat‘ zusammen, der regelmäßig mit Kritik und Forderungen an die Öffentlichkeit geht. So gebe es für Betroffene immer noch zu wenig Therapie-Angebote, in Missbrauchs-Prozessen sei die Zahl der Verfahrenseinstellungen sehr hoch bzw. würden Urteile häufig an der Untergrenze des Strafrahmens gesprochen.
Für die Opfer sexuellen Missbrauchs gibt es inzwischen ein weites Netz an Unterstützungsangeboten: So listet Wildwasser einhundertsechsundsiebzig Beratungsstellen in Deutschland auf. Diese sind allerdings chronisch unterfinanziert und können daher oft nur sehr eingeschränkt helfen.
Quellen
1 Stüben, Olaf (1979): Pädophilie : Verbrechen ohne Opfer. - In: taz, 16.11.1979, siehe Pressedokumentation: Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Jungen : Pädophilie-Debatte / Strafrechtsdebatten (FMT-Signatur: PD-SE.05.01).
2 Merer, Peter (1980): Kinderschänder?. - In: taz, 07.02.1980, siehe Pressedokumentation: Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Jungen : Pädophilie-Debatte / Strafrechtsdebatten (FMT-Signatur: PD-SE.05.01).
3 Hartleb, Peter (1980): Wegen Zärtlichkeit im Knast. - In: taz, 14.02.1980, siehe Pressedokumentation: Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Jungen : Pädophilie-Debatte / Strafrechtsdebatten (FMT-Signatur: PD-SE.05.01).
4 Rush, Florence (1980): The best kept secret: sexual abuse of children. - New Jersey : Prentice Hall (FMT-Signatur: SE.05.004-1980).
5 Rush, Florence (1984): Das bestgehütete Geheimnis : sexueller Kindesmißbrauch. 2. Aufl. - Berlin : Sub-Rosa-Frauenverl., S. 26 (FMT-Signatur: SE.05.004-1984).
6 Siehe: Pressedokumentation: Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Jungen : Pädophilie-Debatte / Strafrechtsdebatten (FMT-Signatur: PD-SE.05.01).
7 Die Mädchenhäuser (1996). - In: EMMA, Nr. 6, S. 34-37. - Verfügbar unter: www.emma.de/lesesaal/45352 oder FMT-Signatur: Z-Ü107:1996-6-a.
8 Oktober 1983 ist das Datum der Eintragung ins Vereinsregister. Siehe auch: Vom Tabu zur Schlagzeile : 30 Jahre Arbeit gegen sexuelle Gewalt – viel erreicht?! ; Kongressdokumentation. - Wildwasser e.V. [Hrsg.], S. 24. - Verfügbar unter: www.wildwasser-berlin.de/tl_files/wildwasser/Dokumente/2014/Dokumentation_30-Jahre-Wildwasser-eV-Berlin.pdf [PDF-Dokument].
9 Wildwasser : Arbeitsgemeinschaft gegen sexuellen Mißbrauch von Mädchen. - [Informationsblatt zur Gründung von Wildwasser und Aufruf zur Materialsammlung und Mitarbeit, undatiert], siehe Pressedokumentation: Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Jungen : Feministische Selbsthilfe, Kapitel Wildwasser (FMT-Signatur PD-SE.05.08).
10 Kavemann, Barbara ; Lohstöter, Ingrid (1984): Väter als Täter : sexuelle Gewalt gegen Mädchen ; "Erinnerungen sind wie eine Zeitbombe". Reinbek bei Hamburg: Rowohlt-Taschenbuch-Verl. (FMT-Signatur: SE.05.05)
11 Kavemann, Barbara ; Lohstöter, Ingrid (1985): Plädoyer für das Recht von Mädchen auf sexuelle Selbstbestimmung. - In: Sexualität : Unterdrückung statt Entfaltung. - Sachverständigenkommission Sechster Jugendbericht [Hrsg.]. Opladen : Leske Verlag + Budrich GmbH, S. 89 (FMT-Signatur: LE.03.160).
12 von Roques, Valeska (1984): Wenn du was sagst, bring ich dich um. - In: Spiegel, Nr. 29, 16.7.1984, verfügbar unter: www.spiegel.de/spiegel/print/d-13509043.html und siehe Pressedokumentation: Sexuelle Gewalt gegen Mädchen : Inzest. (FMT-Signatur: PD-SE.05.02).
13 Sexual Abuse - The Growing Outcry Over Child Molesting (1984). - In: Newsweek, 14.05.1984, siehe Pressedokumentation: Sexuelle Gewalt gegen Mädchen : Inzest (FMT-Signatur: PD-SE.05.02).
14 Grüne: Torso von SchwuP (1985). - In: Spiegel, Nr. 13, 25.3.85, S. 47 ff. - Verfügbar unter: www.spiegel.de/spiegel/print/d-13513384.html und siehe Pressedokumentation: Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Jungen : Pädophilie-Debatte / Strafrechtsdebatten (FMT-Signatur: PD-SE.05.01).
15 Zart war ich, bitter war’s : Handbuch gegen sexuellen Missbrauch (2001). - Enders, Ursula [Hrsg.]. Köln : Kiepenheuer & Witsch (FMT-Signatur: SE.05.NA.004).
16 Siehe Deutscher Kinderschutzbund - Landesverband Hamburg. Die Lobby für Kinder: Arbeitsweisen. - Verfügbar unter www.kinderschutzbund-hamburg.de/arbeitsweisen.html
17 Rutschky, Katharina (1992): Erregte Aufklärung : Kindesmißbrauch: Fakten & Fiktionen. - Hamburg : Klein. (FMT-Signatur: SE.05.077).
18 Siehe Pressedokumentation: Sexuelle Gewalt gegen Mädchen (FMT-Signatur: PD-SE.05.04).
19 Alice Schwarzer (2001): In der Vergangenheit liegt die Gegenwart. - In: EMMA, Nr. 3, S. 23 (FMT-Signatur Z-Ü107:2001-3-a).
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Auswahlbibliografie
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Kavemann, Barbara ; Lohstöter, Ingrid (1984): Väter als Täter : sexuelle Gewalt gegen Mädchen ;
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Rush, Florence (1984): Das bestgehütete Geheimnis : sexueller Kindesmißbrauch. - Bartoszko,
Alexandra [Hrsg.] - Berlin : Sub-Rosa-Frauenverl. (FMT-Signatur: SE.05.004-1984).
Zart war ich, bitter war's. Handbuch gegen sexuellen Missbrauch (2001). - Enders, Ursula [Hrsg.]. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2001 (FMT-Signatur: SE.05.NA.004).
Pressedokumenation
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Die Pressedokumentation des FMT umfasst strukturierte, thematisch aufbereitete und inhaltlich erschlossene Beiträge der allgemeinen und feministischen Presse, meist angereichert mit weiteren Materialien wie z.B. Flugblättern und Protokollen.
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