Simone de Beauvoir ist 1908 in Paris geboren. Die Schriftstellerin und Philosophin legte mit ihrem 1949 erschienenen Jahrhundertessay „Das andere Geschlecht“ das theoretische Fundament für die Neue Frauenbewegung. Der nachfolgende Text ist die Schlusspassage dieses Werkes.
Daß die weibliche Abhängigkeit, ihre Unterlegenheit, das Unglück der Frau ihnen ihren besonderen Charakter verleihen, läßt sich nicht leugnen. Sicherlich wird die Autonomie der Frau, wenn sie den Männern viel Verdruß erspart, ihnen auch manche Bequemlichkeit rauben. Sicherlich wird eine gewisse Art Liebesabenteuer in der Welt von morgen verlorengehen: Das bedeutet aber nicht, daß Liebe, Glück, Poesie, Traum aus ihr verbannt werden. Hüten wir uns, daß unsere mangelnde Phantasie nicht gleich die Zukunft entvölkert.
Aber die Menschheit von morgen wird sie in ihrem Körper und in ihrer Freiheit erleben, sie wird ihre Gegenwart, und sie wird ihr lieber sein. Zwischen den Geschlechtern werden neue körperliche und seelische Beziehungen entstehen, die wir uns nicht vorstellen können: Schon sind zwischen Männern und Frauen Freundschaften, Rivalitäten, Komplicen- und Kameradschaften keuscher und sexueller Art entstanden, die frühere Jahrhunderte nicht gefunden hätten. Unter anderm scheint mir nichts zweifelhafter als das Schlagwort, das der neuen Welt Gleichförmigkeit und somit Langeweile voraussagt. Ich kann nicht finden, daß in der jetzigen Welt die Langeweile fehlt, noch daß jemals Freiheit Gleichförmigkeit erzeugt.
Bei ihrer gegenseitigen Anerkennung als Subjekt bleibt jedes dennoch für den Partner ein Anderes. Die Gegenseitigkeit ihrer Beziehungen schaltet die Wunder Begehren, Besitz, Liebe, Traum, Abenteuer nicht aus, welche die Aufteilung der Menschenwesen in zwei getrennte Kategorien nach sich zieht. Und die Worte Schenken, Erobern, Sichvereinigen, die uns erregen, werden ihren Sinn behalten. Im Gegenteil, wenn die Versklavung der einen Hälfte der Menschheit und das ganze verlogene System, das damit zusammenhängt, abgeschafft ist, dann wird die Unterteilung der Menschheit ihren eigentlichen Sinn verdeutlichen, und das Menschenpaar wird seine wahre Gestalt finden.
Der Mann hat zur Aufgabe, in der gegebenen Welt dem Reich der Freiheit zum Sieg zu verhelfen. Damit dieser höchste Sieg errungen wird, ist es unter anderem notwendig, daß Mann und Frau jenseits ihrer natürlichen Differenzierungen rückhaltlos geschwisterlich zueinander finden.
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