(1365 – 1431/1440)
„Die Natur hat die Frauen mit ebenso vielen körperlichen und geistigen Gaben ausgestattet wie die weisesten und erfahrensten Männer.“
Die venezianisch-französische Schriftstellerin und Philosophin Christine de Pizan gilt als erfolgreichste Schriftstellerin des Mittelalters. In ihrem ‚Buch von der Stadt der Frauen’, das in seiner historischen Bedeutung Beauvoirs ‚Das andere Geschlecht’ gleichkommt, entwirft sie die Utopie von einer Welt, in der Frauen Männern gleichgestellt sind. Als Gegenentwurf zur patriarchalen Gesellschaft entwickelt Pizan ein weibliches Universum, das sie mit Göttinnen, Philosophinnen, Kriegerinnen und anderen Frauengestalten bevölkert. 1894, 500 Jahre nach diesem visionären Werk, nennt der französische Literaturkritiker Gustave Lanson die Autorin „einen der vollkommensten Blaustrümpfe in unserer Literatur“.
Christine de Pizan wird 1365 in Venedig geboren. Vater Tomaso di Pizzano, Astronom und Mediziner, der 1368 als Hofastronom nach Paris gerufen wird, fördert die Neigung seiner ältesten Tochter zu Literatur und Wissenschaft und vermittelt ihr eine für ein Mädchen ungewöhnlich breite Bildung. Im Alter von 15 Jahren wird sie an Etienne du Castel verheiratet, einen königlichen Sekretär und Kollegen des Vaters. Als zuerst Vater Tomaso und drei Jahre später auch ihr Ehemann Etienne an der Pest sterben, gerät Christine in große finanzielle Nöte. Aber sie weigert sich, den für eine Frau vorgesehenen Weg zu gehen: Weder heiratet sie erneut noch geht sie in ein Kloster. Stattdessen prozessiert die 25-Jährige gegen die Schuldner ihres verstorbenen Ehemannes und beschließt, als neues Familienoberhaupt für ihre drei Kinder, ihre Mutter und die zwei jüngeren Brüder zu sorgen. Zunächst verdient sie ihren Lebensunterhalt, indem sie Manuskripte per Hand vervielfältigt. Schließlich beginnt sie selbst zu schreiben.
So verfasst sie unter anderem das Kindererziehungsbuch ‚Buch der Klugheit’, eine Biografie Karls V. und feiert mit ihren Balladen bei einem Dichterwettbewerb Erfolge. Es folgen das ‚Buch des Staatswesens’ und das ‚Buch des Friedens’. Darin setzt sich Pizan für eine Beendigung des ‚Hundertjährigen Krieges’ (1339-1453) zwischen Frankreich und England ein, unter dem das Land Zeit ihres Lebens leidet. In Briefen an die französische Königin und andere hochgestellte Persönlichkeiten mahnt die erklärte Pazifistin die Herrschenden zum Handeln für den Frieden an.
Als Feministin berühmt wird Christine de Pizan 1401 mit ihrer Attacke auf den ‚Rosenroman’ von Jean de Meung. Die Frau sei dazu geschaffen, den Männern zu dienen „wie die Kühe den Stieren“, behauptet der Gelehrte an der Sorbonne. Schriftstellerin Pizan wendet sich entschieden gegen die behauptete moralische und geistige Unterlegenheit der Frau und entgegnet: „Wenn jemand sagt, dass wir Büchern Glauben schenken sollen, die von berühmten Männern geschrieben wurden, welche noch niemals die Unwahrheit gesagt hätten, und die gleichwohl immer nur die Schwächen der Frauen herausstellen, so sage ich darauf, dass solche Autoren niemals etwas anderes im Sinn hatten, als die Frauen zu verleumden und zu betrügen.“ (…) „Es verhält sich doch so, dass die Männer über die Frauen und keineswegs die Frauen über die Männer Herrschaft ausüben.“ Die Folge ist der erste „Literaturstreit“ der europäischen Kulturgeschichte. Die Debatte geht als ‚Querelles des Femmes’ in die Annalen ein. Ihre Kontrahenten attackieren die Frauenrechtlerin, indem sie die Unverheiratete als „Lebedame“ von zweifelhaftem Ruf diffamieren.
Von nun an widmet sich Pizan verstärkt der Frauenfrage. Pizan bezieht Stellung gegen die vorherrschende Lehre von der geistigen, körperlichen und moralischen Minderwertigkeit der Frau. „Wenn es üblich wäre, die kleinen Mädchen eine Schule besuchen und genau wie die Söhne die Wissenschaften erlernen zu lassen, dann würden sie die letzten Feinheiten aller Künste und Wissen schaften ebenso mühelos begreifen wie jene.“ 1405 verfasst sie ihre Utopie von der ‚Stadt der Frauen’. Hier entwirft sie die Utopie eines ‚Königreichs Fémenie’, das symbolisch aus den lobenswerten Taten und Werken von Frauen erschaffen ist.
Ihre letzten Lebensjahre verbringt die Visionärin, die 15 Bücher und mehrere Hundert Gedichte, Essays und andere Schriften hinterlässt, in einem Kloster bei Paris. Ihr letztes schriftliches Zeugnis ist eine Huldigung der Johanna von Orléans, die als „Jungfrau von Orléans“ für ihr Vaterland in die Schlacht gegen England zog und auf dem Scheiterhaufen endete. Pizan rühmt ihre Zeitgenossin 1429 als „Ehre für das weibliche Geschlecht“. Christine de Pizan stirbt um 1430 in Poissy.
Schon die Historische Frauenbewegung bemühte sich um eine Würdigung ihrer berühmten, aber fast vergessenen Vorgängerin. Zum zweiten Mal wiederentdeckt wurde Christine de Pizan Anfang der 1970er Jahre von der französischen Frauenbewegung. 1986 wird ihr ‚Buch von der Stadt der Frauen’ endlich aus dem Mittelfranzösischen ins Deutsche übersetzt.
Biografie chronologisch
1365
Christine de Pizan wird in Venedig geboren. Ihr Vater Tomaso, Astronom und Mediziner, lehrt an der Universität Bologna. Über ihre Mutter ist nichts bekannt.
1368
Die Familie zieht nach Paris, als der Vater als Hofastronom und Leibarzt an den Hof Karls V. berufen wird.
1380
Christine wird mit einem Kollegen des Vaters, dem königlichen Sekretär, Etienne du Castel, verheiratet.
1387
Christine de Pizans Vater stirbt.
1390
Christines Ehemann stirbt an der Pest. Es folgen Zwangsvollstreckungen und große finanzielle Sorgen. Christine verdient den Lebensunterhalt für die Familie zunächst mit der Vervielfältigung von Manuskripten und schließlich mit eigener schriftstellerischer Tätigkeit.
1399
Christines erstes Werk ‚Cent Ballades’ (Hundert Balladen) erscheint. Es folgt die ‚Epistel an den Gott der Liebe’, in der sie sich gegen die gesellschaftliche Betrachtung der Frau als schwach, dumm und lasterhaft wendet.
1401
Christine de Pizan nimmt Stellung gegen die frauenfeindlichen Positionen des ‚Rosenromans’ von Jean de Meung und entfacht damit die ‚Querelles des Femmes’, den ersten Literaturstreit der europäischen Geschichte.
1405
Pizans zentrales feministisches Werk erscheint: ‚Das Buch von der Stadt der Frauen’. Hier entwirft sie die Utopie eines ‚Königreichs Fémenie’, das symbolisch aus den lobenswerten Taten und Werken von Frauen erschaffen ist.
1410
Der stark autobiografisch geprägte Roman ‚Christines Vision’ erscheint. Darin schildert Pizan ihre wirtschaftlichen Nöte als junge Witwe und ihr Leben mit den Belästigungen und Anfeindungen der Männer.
1418
Christine de Pizan zieht sich in das Dominikanerinnen-Kloster Saint-Louis in Poissy bei Paris zurück.
1429
Die Autorin veröffentlicht ihr letztes Werk, ein Gedicht über Jeanne d’Arc, in der sie die Jungfrau von Orléans als Heldin und „Ehre für das weibliche Geschlecht“ feiert.
1430 (oder später)
Christine de Pizan stirbt in Poissy.
Textauszüge
Das Buch von der Stadt der Frauen
Das Buch von der Stadt der Frauen
HIER BEGINNT DAS BUCH VON DER STADT DER FRAUEN, DESSEN ERSTES KAPITEL ERZÄHLT, WESHALB UND AUS WELCHEM ANTRIEB DIESES BUCH VERFASST WURDE.
I. Als ich eines Tages meiner Gewohnheit gemäß, umgeben von zahlreichen Büchern aus verschiedenen Sachgebieten in meiner Klause saß und mich dem Studium der Schriften widmete, war mein Verstand es zu jener Stunde einigermaßen leid, die bedeutenden Lehrsätze verschiedener Autoren, mit denen ich mich seit längerem auseinandersetzte, zu durchdenken. › mehr
Das Buch von der Stadt der Frauen - Kap.II
Das Buch von der Stadt der Frauen - Kap.II
HIER ERZÄHLT CHRISTINE, WIE IHR DREI VORNEHME FRAUEN ERSCHEINEN, WIE IHRE ANFÜHRERIN SIE ANREDET UND SIE ÜBER IHREN KUMMER HINWEGTRÖSTET.
II. Während ich mich mit so traurigen Gedanken herumquälte, ich den Kopf gesenkt hielt wie eine, die sich schämt, mir die Tränen in den Augen standen und ich den Kopf in meiner Hand barg, den Arm auf die Stuhllehne gestützt, sah ich plötzlich einen Lichtstrahl auf meinen Schoß fallen, als wenn die Sonne schiene. › mehr
Das Buch von der Stadt der Frauen - Kap.XIX
Das Buch von der Stadt der Frauen - Kap.XIX
CHRISTINE WENDET SICH AN DIE FRAUEN.
XIX. Meine edlen, hochverehrten Frauen, gepriesen sei Gott, denn nunmehr ist die Errichtung unserer Stadt vollendet und abgeschlossen. Ihr Frauen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die Ihr Tugend, Ehre und Unbescholtenheit liebt, findet hier eine Bleibe, denn unsere Stadt wurde für alle ehrsamen Frauen gegründet und errichtet. › mehr
Ditié de Jeanne d'Arc
Ditié de Jeanne d'Arc
"Und Du, gesegnetes Mädchen, darfst Du jemals vergessen werden, der Gott so viel Ehre zuteil werden ließ, so daß Du die Fesseln, die Frankreich banden, lösen konntest? Kann man Dich je genug loben dafür, daß Du diesem vom Kriege mißhandelten Land Frieden brachtest? Gesegnet sei, der Dich schuf, Jeanne, die Du in einer glücklichen Stunde geboren wurdest.... Wie Moses Gottes Volk aus Ägypten führte, so hast Du uns aus dem Übel geführt." (Vers 21-23) › mehr
Literaturhinweise
Primärliteratur
Pizan, Christine de (1399): L‘épistre au dieu d’amours; dt.: Der Sendbrief vom Liebesgott. – Graz : Leykam, 1987, 47, 27 S.
Pizan, Christine de (1405): Le livre de la cité des dames; dt.: Das Buch von der Stadt der Frauen. – Berlin : Orlanda-Frauenverl., 1986, 312 S.
Pizan, Christine de (1405): Le livre du trésor de la cité; dt.: Der Schatz der Stadt der Frauen : weibliche Lebensklugheit in der Welt des Spätmittelalters ; ein Quellentext. – Opitz, Claudia [Hrsg.]. Freiburg : Herder, 1996, 284 S.
Pisan, Christine de (1413): The „Livre de la paix“ of Christine de Pisan : a critical edition with introduction and notes by Charity Cannon Willard. – Willard, Charity Cannon [Hrsg.]. ‘s-Gravenhage : Mouton, 1958, 219 S.
Pisan, Christine de (1429): Ditié de Jehanne d’Arc. – Kennedy, Angus J. [Hrsg.] ; Varty, Kenneth [Hrsg.]. Oxford : Society for the Study of Mediaeval Languages and Literature, 1977, 103 S.
Pisan, Christine de (1886): Oeuvres poétiques de Christine de Pisan. – Bd. 1: Ballades, virelais, lais, rondeaux, jeux à vendre et complaintes amoureuses. – Roy, Maurice [Hrsg.]. Paris : Didot, XXXVIII, 320 S.
Pisan, Christine de (1891): Oeuvres poétiques de Christine de Pisan. – Bd. 2: L’épitre au dieu d’amours, le dit de la rose, le débat de deux amants, le livre des trois jugements, le dit de Poissy, le dit de la pastoure, épitre à Eustache Morel. – Roy, Maurice [Hrsg.]. Paris : Didot, XXI, 313 S.
Pisan, Christine de (1896): Oeuvres poétiques de Christine de Pisan. – Bd. 3: Oraisons, enseignements et proverbes moraux, le livre du duc des vrais amants, les cent ballades d’amant et de dame. – Roy, Maurice [Hrsg.]. Paris : Didot, XXIV, 317 S.
Pisan, Christine de (1977): Le débat sur le Roman de la rose. – Hicks, Eric [Hrsg.]. Paris : Champion, XCIX, 236 S.
Liste aller im FrauenMediaTurm vorhandenen Publikationen von Christine de Pizan als Autorin oder Herausgeberin: PDF-Download
Sekundärliteratur
Christine de Pizan : a casebook (2003). – Altmann, Barbara K. [Hrsg.] ; MacGrady, Deborah L. [Hrsg.]. New York : Routledge, XIII, 296 S.
Zimmermann, Margarete (2002): Christine de Pizan. – Reinbek bei Hamburg : Rowohlt-Taschenbuch-Verl., 157 S.
Probst, Claudia (1996): Ein Ratgeberbuch für die weibliche Lebenspraxis : Christine de Pizans „Livre des trois vertus“. – Pfaffenweiler : Centaurus-Verl.-Ges., 138 S.
Kottenhoff, Margarete (1994): „Du lebst in einer schlimmen Zeit“: Christine de Pizans Frauenstadt zwischen Sozialkritik und Utopie. – Köln : Böhlau, 280 S.
Zimmermann, Margarete (1993): „Wirres Zeug und übles Geschwätz“ : Christine de Pizan über den Rosenroman. – Bad Nauheim : Rosenmuseum Steinfurth, 64 S.
Pernoud, Régine (1990): Christine de Pizan: das Leben einer außergewöhnlichen Frau und Schriftstellerin im Mittelalter. – München : Dt. Taschenbuch-Verl., 180 S.
Liste aller im FrauenMediaTurm vorhandenen Publikationen, die Christine de Pizan zum Thema haben (nach Jahr absteigend sortiert): PDF-Download
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