Generalstreik und Kriegsdienstverweigerung (Radikalpazifismus)

Helene Stöcker, 1922

Gesinnungsfreunde im Kampfe gegen den Krieg! Das deutsche Friedenskartell, in dem 15 pazifistische Organisationen zusammengeschlossen sind, hat mich beauftragt, den folgenden Antrag vor Ihnen zu vertreten:

»Im Anschluß an die Beschlüsse von Amsterdam und Rom erklärt der Internationale Weltfriedenskongreß es für die Pflicht der Gewerkschaften und der pazifistisch organisierten Gruppen aller Länder: 1. Im Falle einer Mobilmachungsordre der jeweiligen Regierung gegen einen anderen Staat unter allen Umständen in den Generalstreik zu treten und so lange darin zu verharren, bis die Regierung ihre Ordre zurückgenommen und andere Maßnahmen (durch Anrufung von internationalen Schiedsgerichten usw.) zur Regelung des Streitfalles getroffen hat. 2. Diesen Generalstreik schon jetzt in allen Ländern organisatorisch und finanziell vorzubereiten, und zu diesem Zwecke Kommissionen einzusetzen, die mit Vollmachten zu versehen und von einer internationalen Kontrollinstanz zu überwachen sind. 3. Das Verantwortlichkeitsbewußtsein zu stärken durch systematisches Hinweisen auf den engen Zusammenhang der individuellen Kriegsdienstverweigerung mit dem Generalstreik, da beide Maßnahmen nur durch gegenseitige Unterstützungen wirksam werden. 4. Im Zusammenhang mit den Arbeitsämtern der Gewerkschaften Arbeitsämter zu schaffen, die in allen Ländern eine Umstellung der Rüstungsindustrie in produktive Industrie in die Wege leiten, damit die allgemeine Abrüstung möglichst bald ohne wirtschaftliche Gefährdung der Rüstungsarbeiter vollzogen werden kann.«

Zu Punkt 3: Ein merkwürdiges Zeichen der geringen Selbstachtung des Menschen ist es, daß er es bisher sich hat gefallen lassen, von seinen Regierungen und herrschenden Klassen als Kanonenfutter, als Kriegsmaterial, das man dem Feind entgegenwirft, benutzt, mißbraucht und zerstört zu werden. Darum glauben wir, daß der von der Resolution von Rom vorgeschlagene Generalstreik erst dann völlig wirksam werden kann, wenn er nicht nur eine von oben befohlene Maßnahme einiger Führer bleibt, sondern wenn er zugleich eine lebendige Erkenntnis jedes Einzelnen wird, daß er sich sagt, daß er persönlich die Verantwortung für den Ausbruch oder die Verhinderung eines Krieges mitträgt.

Dieses sittliche Verantwortlichkeitsbewußtsein zu wecken, die Überzeugung von der Sinnlosigkeit jedes Krieges zu fördern, und zur Verweigerung jeder Teilnahme an ihm aufzufordern, das scheint mir eine der Aufgaben, die unsere pazifistische Organisation innerhalb unserer gemeinsamen Aktion erfüllen kann. Daß aller Fortschritt der Menschheit nur mit Opfern erkauft wird, wissen wir. Wir wissen aber auch, daß man große, die ganze Welt umspannende Aktionen nicht allein auf dem Heldentum, auf dem Märtyrertum aufbauen kann. Und gerade darum scheint es uns so notwendig zu sein, den Generalstreik und Dienstverweigerung zu verbinden.

Auf ein einziges Argument, das man unserer Auffassung entgegenwirkt, darf ich bei der Kürze der Zeit noch eingehen. Es sei nicht demokratisch – wird uns entgegengehalten -, dem Mehrheitswillen des Staates entgegenzutreten. Aber mit diesem Argument würde jeder Fortschritt in der Welt lahmgelegt. Jeder sittliche Fortschritt geht zunächst von Minderheiten, von Einzelnen aus. Der Staat – das müssen wir uns ganz klar vorstellen – ist keine unantastbare sittliche Vollkommenheit, sondern wir wollen ihn doch erst durch unsere sittliche Arbeit zu der menschlichen Gemeinschaft machen, in der zu leben auf Erden sich lohnt. Und darum fürchten wir Radikal-Pazifisten, die wir jeden Krieg und jede Teilnahme an ihm ablehnen, uns auch nicht davor, den Kampf gegen das kapitalistische System, wie es in der Resolution von Rom ausgedrückt ist, aufzunehmen. Im Gegenteil! Wir glauben, daß man den Krieg wahrhaft nur dann bekämpfen kann, wenn man seinen Ursachen nachgeht. (Sehr richtig!)

Zu seinen Ursachen rechnen wir aber neben dieser falschen Auffassung vom Staate, der für uns kein Gott und kein Götze ist, sondern ein Mittel, das den Menschen zu dienen hat, auch die Gegensätze der Klassen zwischen Besitzenden und Nichtbesitzenden; wir versprechen uns daher auch keinen wesentlichen Erfolg von einem Kampfe für den Weltfrieden, der nicht zugleich ein Kampf für eine bessere Gesellschaftsordnung ist. (Sehr richtig!)

Wir wollen daher mit aller Kraft für die Beseitigung der die Klassen trennenden Grenzen wirken und für die Schaffung einer Gesinnung und einer neuen sozialen Ordnung, die auf der gemeinsamen Arbeit zum Wohle aller beruht. Mag früher einmal der Krieg eine geschichtliche Notwendigkeit gewesen sein, heute gibt es nur eine geschichtliche Notwendigkeit: die Entwicklung über die Zerfleischung der Nationen hinaus zur Menschlichkeit! Und für sie wollen wir wirken und arbeiten. (Lebhafter Beifall)

Rede auf dem Internationalen Friedenskongreß in Den Haag 1922

(Quelle: Stöcker, Helene (1922): Generalstreik und Kriegsdienstverweigerung (Radikalpazifismus). – In: Frauen gegen den Krieg. – Brinker-Gabler, Gisela [Hrsg.]. Frankfurt : Fischer-Taschenbuch-Verl., 1980, S. 100 – 102)

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